Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
1. Abkehrwille
Rz. 416
Äußerungen des Arbeitnehmers, das Arbeitsverhältnis aufgeben, sich verändern zu wollen oder "keine Lust mehr zu haben", können keine Kündigung rechtfertigen, solange es bei bloßen Äußerungen bleibt und die arbeitsvertraglichen Pflichten weiterhin ordnungsgemäß erfüllt werden (BAG v. 22.10.1964, AP Nr. 16 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung). Ein Arbeitnehmer verstößt auch nicht gegen seine Vertragspflichten, wenn er während des laufenden Arbeitsverhältnisses den Wechsel zu einem Konkurrenzunternehmen oder die Gründung eines eigenen Konkurrenzunternehmens vorbereitet (BAG v. 30.1.1963, AP Nr. 3 zu § 60 HGB; BAG v. 16.1.1975, AP Nr. 8 zu § 60 HGB). Treten allerdings zu den Vorbereitungshandlungen Arbeitsvertragsverletzungen hinzu, wie etwa die Abwerbung von Kunden oder Arbeitskollegen oder der Verrat von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen, kann dies eine verhaltensbedingte Kündigung sozial rechtfertigen. Der Arbeitnehmer hat bis zur Beendigung seines Arbeitsverhältnisses alles zu unterlassen, was seinen Arbeitgeber schädigen kann (BAG v. 26.1.1995, EzA § 626 BGB Nr. 155).
Rz. 417
Bei Spezial- und Mangelberufen kommt ausnahmsweise eine betriebsbedingte Kündigung in Betracht, wenn der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, eine Ersatzkraft für den abkehrwilligen Arbeitnehmer kurzfristig einzustellen (BAG v. 22.10.1964, DB 1965, 38). Vor Ausspruch einer solchen Kündigung muss sich der Arbeitgeber jedoch zunächst beim abkehrwilligen Arbeitnehmer erkundigen, ob dieser tatsächlich ernsthafte Wechselabsichten hegt (LAG München v. 29.11.1974 – 5 Sa 601/74, DB 1975, 1129).
2. Abwerbung
Rz. 418
Eine Kündigung kann nicht darauf gestützt werden, dass wechselwillige Arbeitnehmer ihre Kollegen über die geplante berufliche Veränderung unterrichten. Selbst die Aufforderung an andere Mitarbeiter, ebenfalls den Arbeitgeber zu wechseln, kann für sich genommen noch keine Kündigung rechtfertigen. Es müssen besondere Umstände hinzutreten, die das Verhalten des Abwerbenden rechts- oder sittenwidrig machen (BAG v. 22.1.1965, DB 1966, 269). Dies kann etwa bei der Abwerbung von Arbeitnehmern mit speziellen Kenntnissen und Fertigkeiten gelten, auf die der Arbeitgeber angewiesen ist oder für eine Abwerbung, bei der der Abgeworbene gleichzeitig dazu aufgefordert wird, seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen zu verletzen (LAG Berlin, 6.12.1962 – 2 Sa 34/62, DB 1963, 871; LAG Düsseldorf v. 15.10.1969, DB 1969, 2353).
3. Alkohol- und Drogenkonsum
Rz. 419
Hat der Arbeitnehmer wiederholt gegen ein im Betrieb geltendes Alkoholverbot verstoßen, kann eine darauf gestützte verhaltensbedingte Kündigung nach vorheriger Abmahnung sozial gerechtfertigt sein (BAG v. 22.7.1982, DB 1983, 180). Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer alkoholisiert zur Arbeit erscheint oder beeinflusst durch seinen alkoholisierten Zustand Auseinandersetzungen mit Arbeitskollegen oder Vorgesetzten provoziert oder in anderer Weise durch alkoholbedingtes Fehlverhalten gegen die Regeln der Arbeitsordnung verstößt (BAG v. 26.1.1995 – 2 AZR 649/94, NZA 1995, 517). Bei der Beurteilung einer im Zusammenhang mit alkoholbedingtem Fehlverhalten des Arbeitnehmers stehenden Kündigung ist allerdings zu differenzieren, ob verhaltensbedingte Gründe vorliegen oder ob die Maßstäbe einer personenbedingten Kündigung aus Krankheitsgründen anzuwenden sind (vgl. hierzu Rdn 230 ff.). Beruht der Alkoholmissbrauch auf einer Alkoholabhängigkeit, gelten die Regeln der krankheitsbedingten Kündigung, denn Alkoholabhängigkeit ist nach der Rspr. des BAG eine Krankheit im medizinischen Sinne (BAG v. 9.4.1987 – 2 AZR 210/86, DB 1987, 2156 = BB 1987, 1815; BAG v. 13.12.1990, EzA § 1 KSchG Krankheit Nr. 33). Von krankhaftem Alkoholismus ist auszugehen, wenn der Arbeitnehmer infolge psychischer oder physischer Abhängigkeit übermäßigen oder gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuss trotz besserer Einsicht nicht aufgeben oder reduzieren kann (BAG v. 1.6.1983, AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG). Eine Kündigung wegen Pflichtverletzungen, die ihre Ursache in einer Alkoholabhängigkeit des Arbeitnehmers haben, ist i.d.R. sozialwidrig, weil dem Arbeitnehmer kein Schuldvorwurf gemacht werden kann.
Rz. 420
Auch wegen der ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung gem. § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG ist eine genaue Unterscheidung zwischen der Kündigung wegen einer steuerbaren verhaltensbedingten Pflichtwidrigkeit im Bereich des Alkoholkonsums einerseits und der auf krankhafter Alkoholabhängigkeit beruhenden Störquelle andererseits erforderlich (vgl. BAG v. 5.2.1981 – 2 AZR 1135/78, DB 1982, 1171).
Rz. 421
Materiellrechtlich gelten ebenfalls unterschiedliche Regeln: Eine auf Alkoholabhängigkeit gestützte Kündigung erfordert kein Verschulden, aber eine besondere Prognoseprüfung. Es ist zu fragen, ob auch in Zukunft mit alkoholbedingten Arbeitsunfähigkeitszeiten, Leistungseinschränkungen oder einem betriebsstörenden alkoholbedingten Fehlverhalten zu rechnen ist. Dabei kann es entscheidend darauf ankommen, ob der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung bereit war, eine ...