Rz. 16
Eine Beschwerde wird a limine zurückgewiesen, wenn sie sich als offensichtlich unbegründet erweist (Art. 35 Abs. 3 lit. a Alt. 2 EMRK). Der EGMR macht von der Möglichkeit einer solchen Abweisung sehr häufig Gebrauch; ca. 90 % der Fälle scheitern an dieser Hürde. Die häufigsten Gründe für die Zurückweisung sind: offensichtliches Fehlen einer Konventionsverletzung, evident unzutreffender oder nicht beweisbarer Sachvortrag, unzureichend substantiierte Beschwerde sowie Beschwerden, die nur die fehlerhafte Anwendung innerstaatlichen Rechts oder mangelhafte Sachaufklärung durch nationale Gerichte rügen. Jene Entscheidungen enthielten im Regelfall keinerlei Begründung und hätten sich womöglich bei näherem Hinsehen bisweilen sogar als begründet erwiesen. Die anhaltende, gerade auch von anwaltlicher Seite geäußerte Kritik an dieser Praxis führte zu einem Umdenken innerhalb des EGMR. Mit Wirkung zum 1.6.2017 wurde die Gerichtspraxis insoweit geändert, dass Unzulässigkeitsentscheidungen, die durch einen Einzelrichter ergehen, fortan in vielen Fällen eine kurze Begründung enthalten, die die spezifischen Gründe für die Unzulässigkeit enthält. In Fällen unbegründeter, fehlerhafter oder missbräuchlicher Beschwerden ergehen Entscheidungen weiterhin ohne jedwede Angabe von Gründen.
Der Gerichtshof erklärt eine Beschwerde ferner für unzulässig, wenn der Beschwerdeführer sein Beschwerderecht missbraucht (Art. 35 Abs. 3 lit. a Alt. 3 EMRK). In der Rechtssache Mirolubovs et al./Lettland aus dem Jahr 2009 hat der EGMR seine bisherige Rechtsprechung zu diesem Punkt zusammengefasst und Kriterien aufgestellt, ab wann eine Beschwerde als missbräuchlich anzusehen ist. Dies ist demnach der Fall, wenn sich die Beschwerde bewusst auf erfundene Tatsachen stützt, um den Gerichtshof zu täuschen; wenn sie den EGMR über einen für die Entscheidung wesentlichen Umstand nicht informiert; wenn sie besonders beleidigende, kränkende, drohende oder provozierende Ausdrücke gegenüber der Regierung, ihrem Prozessbevollmächtigten oder den staatlichen Behörden oder gegenüber dem EGMR, den Richtern, der Kanzlei oder ihren Bediensteten verwendet; wenn in Gesprächen mit Medien eine unverantwortliche und frivole Einstellung zum Gerichtsverfahren erkennbar wird; wenn wiederholt schikanöse oder offensichtlich unbegründete Beschwerden eingereicht werden, die einer früheren, als unzulässig zurückgewiesenen Beschwerde entsprechen oder wenn bewusst die Verpflichtung zur Vertraulichkeit des Verfahrens über eine gütliche Einigung (Art. 38 Abs. 2 EMRK; Art. 62 VerfO) verletzt wird. Auch eine "Demonstration empörender Verantwortungslosigkeit" durch den Anwalt des Beschwerdeführers kann Missbräuchlichkeit begründen.