I. Vorläufige Akte
Rz. 22
Die Kanzlei des Gerichtshofes legt nach Eingang der Beschwerde eine vorläufige Akte an und vergibt einen Barcode; dem Beschwerdeführer werden Aufkleber mit dem Barcode zur Verfügung gestellt. Diese sind auf jeder weiteren Korrespondenz mit dem Gericht anzubringen. Die Kanzlei prüft vorab, ob die Beschwerde offenkundig unzulässig und/oder unbegründet ist oder ein gleich gelagerter Fall bereits entschieden wurde, und macht ggf. auf Zulässigkeitsbedenken aufmerksam. Diese Bedenken sollte der Beschwerdeführer ernst nehmen und sie durch zusätzliche Argumente und Nachweise entkräften. Zwar darf sich die Kanzlei nicht weigern, eine Beschwerde zu registrieren. Allerdings kann der Gerichtshof der Position der Kanzlei bei der Zulässigkeitsentscheidung besondere Bedeutung zumessen.
Im weiteren Verfahren müssen alle Schriftsätze den formalen Vorgaben des Art. 38 VerfO i.V.m. der gesonderten Verfahrensanordnung "Written Pleadings" entsprechen, da diese sonst keinerlei Berücksichtigung finden. Schriftsätze und Begleitunterlagen müssen in dreifacher Ausführung per Post eingereicht werden; gleichzeitig wahrt nur die rechtzeitige Übermittlung per Post die vom Gerichtshof gesetzten Fristen (vgl. Rdn 12). Einzelheiten zu den Formvorschriften enthält die Verfahrensanordnung.
II. Vorprüfung des Gerichtshofs – Einzelrichter und Richterausschuss
Rz. 23
Der Präsident des EGMR weist eine Individualbeschwerde einer der fünf Sektionen des Gerichts zu (Art. 52 Abs. 1 VerfO). Dort wird die Beschwerde entweder einem Einzelrichter (Art. 27 EMRK), einem aus drei Richtern bestehenden Ausschuss (Art. 28 EMRK) oder der aus sieben Richtern bestehenden Kammer (Art. 29 EMRK) zur Prüfung vorgelegt.
Der Einzelrichter kann die Beschwerde für unzulässig erklären oder aus dem Register streichen, "wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann" (Art. 27 Abs. 1 EMRK). Die Entscheidung des Einzelrichters ist endgültig (Art. 27 Abs. 2 EMRK); über sie wird der Beschwerdeführer durch einfachen Brief unterrichtet (Art. 52A Abs. 1 VerfO) (vgl. Rdn 16).
Wenn der Einzelrichter die Beschwerde weder für unzulässig erklärt noch aus dem Register streicht, hat er sie gem. Art. 27 Abs. 3 EMRK, 52A Abs. 3 VerfO an den Dreierausschuss oder an eine Kammer weiterzuleiten. In beiden Fällen fordert ein richterlicher Berichterstatter gem. Art. 49 Abs. 3 lit. a VerfO zusätzliche Auskünfte vom Beschwerdeführer oder vom beklagten Staat an. Der Einzelrichter gibt Beschwerden, die er für offensichtlich begründet hält, typischerweise an einen Ausschuss ab. Grund hierfür ist Art. 28 Abs. 1 lit. b EMRK, wonach der Ausschuss durch einstimmigen Beschluss eine Beschwerde für zulässig und begründet erklären kann. Voraussetzung für eine solche Entscheidung ist, dass die der Beschwerde zugrunde liegende Frage Gegenstand einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist. Ferner kann auch der Ausschuss eine Beschwerde für unzulässig erklären oder aus dem Register streichen, wenn er eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung treffen kann. Entscheidungen der Ausschüsse müssen einstimmig ergehen. Sie sind gem. Art. 28 Abs. 2 EMRK endgültig.
Kann auch der Ausschuss nicht abschließend über eine Sache entscheiden, wird diese weiter an die Kammer verwiesen (Art. 29 Abs. 1 EMRK). Diese stellt die Beschwerde zunächst dem betroffenen Vertragsstaat zu (Art. 54 Abs. 2 VerfO). Ab der Zustellung besteht Vertretungszwang (vgl. Rdn 26) sowie die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe zu beantragen (vgl. Rdn 35). Die Kammer entscheidet normalerweise gem. Art. 29 Abs. 1 EMRK auf Grundlage der Schriftsätze über Zulässigkeit und Begründetheit, nur in Ausnahmefällen nach mündlicher Verhandlung.
III. Kammer
Rz. 24
Die nach dem Rotationsprinzip gebildeten Kammern bestehen aus sieben Richtern, darunter mindestens ein Sektionspräsident und ein Richter des am Verfahren beteiligten Staates (Art. 26 Abs. 1a VerfO). Ergeht weder eine Entscheidung nach Art. 27 oder 28 EMRK noch ein Urteil nach Art. 28 EMRK, kommt die Beschwerde vor die Kammer (Art. 29 EMRK) (vgl. Rdn 23). Die Kammern bilden die eigentlichen Spruchkörper des Gerichtshofs. Im Regelfall sind sie dazu berufen, die endgültige Sachentscheidung über eine Beschwerde zu treffen. Der Kammer liegt der Bericht des Berichterstatters vor (Art. 49 Abs. 3 lit. c VerfO). Auf Grundlage dessen entscheidet die Kammer in der Regel gleichzeitig über die Zulässigkei...