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Der Beschwerdeführer muss substantiiert behaupten können, Opfer einer Konventionsverletzung geworden zu sein. Die Opfereigenschaft ist dann zu bejahen, wenn der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist (Art. 34 EMRK).[42] Weder eine actio popularis noch eine abstrakte Normenkontrolle ist zulässig.[43] Der Nachweis eines Schadens ist an dieser Stelle noch nicht erforderlich, er wird erst bei der Frage der gerechten Entschädigung i.S.v. Art. 41 EMRK relevant.[44]

Handelt es sich bei dem Beschwerdegegenstand um eine unmittelbar gegen den Beschwerdeführer gerichtete hoheitliche Maßnahme, wie z.B. eine Gerichtsentscheidung oder ein Verwaltungsakt, ist die Betroffenheit im Regelfall zu bejahen.[45] Richtet sich die Beschwerde gegen ein Gesetz, begründet im Grundsatz erst der Vollzugsakt die Betroffenheit.[46] Der Vollzug ist indes entbehrlich, wenn bereits das Gesetz als solches den Beschwerdeführer zu einer Änderung seines Verhaltens zwingt oder die Strafverfolgung unmittelbar droht.[47]

Auch eine nur mittelbare Betroffenheit kann die Opfereigenschaft begründen.[48] Hierfür ist erforderlich, dass eine ausreichend enge Bindung sowohl zu dem unmittelbar Betroffenen als auch zu dem Beschwerdegegenstand besteht. Dies ist bei nahen Angehörigen regelmäßig der Fall.[49] Anteilseigner einer Gesellschaft sind hinsichtlich einer Verletzung von Konventionsrechten der Gesellschaft nur ausnahmsweise und subsidiär beschwerdeberechtigt, namentlich, wenn es der Gesellschaft unmöglich ist, eine Beschwerde durch ihre eigenen Organe oder im Insolvenzfall durch den Insolvenzverwalter zu erheben.[50]

Die Beschwer muss zum Zeitpunkt der Beschwerde zudem gegenwärtig sein. Ausnahmsweise kann eine in der Vergangenheit liegende Verletzung gerügt werden, wenn sie in der Zwischenzeit noch nicht geheilt wurde. Die Opfereigenschaft ist insofern zu verneinen, wenn die staatlichen Behörden oder Gerichte die Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und Wiedergutmachung geleistet haben.[51] Fehlt die Beschwer von Anfang an, wird die Beschwerde a limine zurückgewiesen. Entfällt die Beschwer nach Beschwerdeerhebung, kann dies unter Umständen der weiteren Sachprüfung entgegenstehen.[52] Dies ist z.B. bei auf Art. 6 EMRK gestützte Beschwerden, die nationale Verfahren betreffen, die letztlich eingestellt bzw. mit einem Freispruch beendet wurden, gegeben.[53]

In Ausprägung des Grundsatzes "de minimis non curat praetor" führte das am 1.6.2010 in Kraft getretene Zusatzprotokoll Nr. 14 mit Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK eine signifikante Zugangshürde zum Gerichtshof ein: Danach ist eine Beschwerde unzulässig, wenn dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist.[54] Der Beschwerdeführer muss folglich dartun, dass er einen erheblichen Nachteil erlitten hat. Der Gerichtshof konkretisiert seitdem den auslegungsbedürftigen Begriff des "nicht erheblichen Nachteils"[55] stets im Wege der Einzelfallbetrachtung.[56] Maßgeblich für die Beurteilung sind die individuelle Situation des Beschwerdeführers, seine subjektive Wahrnehmung des Nachteils[57] sowie objektive Kriterien, wie etwa die Höhe des erlittenen materiellen Schadens.[58]

Im Ausnahmefall prüft der Gerichtshof eine Beschwerde trotz Fehlens eines erheblichen Nachteils. Dies setzt voraus, dass die Achtung der Menschenrechte eine Prüfung erfordert oder die Rechtssache von keinem innerstaatlichen Gericht bislang gebührend untersucht wurde.[59] Maßgebliche Kriterien sind hier Art und Umfang der Verletzung der Menschenrechte, ob eine Wiederholungsgefahr besteht, oder ob die aufgeworfenen Fragen bereits geklärt sind.[60] Ob die nationalen Gerichte einen Fall gebührend untersucht haben, beurteilt der Gerichtshof danach, ob der zugrunde liegende Sachverhalt anhand der maßgebenden Vorschriften des nationalen Rechts (z.B. anhand der Verfassungsrechte) geprüft wurde. Allerdings beschränkt er sich hierbei auf eine Willkürkontrolle.[61]

[42] Kleine-Cosack, Menschenrechtsbeschwerde, Rn 1595; Peters/Altwicker, EMRK, S. 267 ff. m.w.N.
[43] EGMR, Monnat/Schweiz, Entsch. v. 21.9.2006, Nr. 73604/01, Rn 31–32; Klass et al./Deutschland, Entsch. v. 6.9.1978, Nr. 5029/71, Rn 33; Burden/Vereinigtes Königreich, Entsch. v. 29.4.2008, Nr. 13378/05, Rn 33; Cordella et al./Italien, Entsch. v. 24.1.2019, Nr. 54414/13 und 54264/15 Rn 100; Kleine-Cosack, Menschenrechtsbeschwerde, Rn 1601; Frowein/Peukert, EMRK, Art. 34 Rn 22.
[44] Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn 16.
[45] Peters/Altwicker, EMRK, S. 269.
[46] Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn 19.
[47] EGMR, Norris/Irland, Entsch. v. 26.10.1988, Nr. 10581/83, Rn 31 f.; Bowman/Vereinigtes Königreich, Entsch. v. 19.2.1982, Nr. 24839/94, Rn 29; Klass/Deutschland, Entsch. v. 6.9.1978, Nr. 5029/71, Rn 34.
[48] EGMR, Yasa/Türkei, Entsch. v. 2.9.1998, Nr. 22495/93, Rn 65 f.; Anguelova/Bulgarien, Entsch. v. 6.6.2000, Nr. 38361/97.
[49] Exemplarisch: Recht der Ehefrau, den guten Ruf des verstorbenen Ehemannes zu verteidigen (Brudnicka et al./Po...

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