Rz. 10
Nach Art. 35 Abs. 1 EMRK ist die Beschwerde innerhalb von sechs Monaten nach der letzten, endgültigen innerstaatlichen Entscheidung einzureichen. Sobald das Protokoll Nr. 15 in Kraft tritt, wird sich die Beschwerdefrist auf vier Monate verkürzen.
Monate werden dabei als Kalendermonate unabhängig von ihrer tatsächlichen Länge gezählt. Die Fristenberechnung richtet sich allein nach Konventionsrecht, ohne dabei nationale Besonderheiten zu berücksichtigen, und unterscheidet sich insofern von der deutschen Fristenberechnung, dass eine Verlegung des Fristendes auf den darauffolgenden Werktag nicht stattfindet, auch wenn der letzte Tag der Frist auf einen (nationalen) Feiertag oder das Wochenende fällt.
1. Fristbeginn
Rz. 11
Der Fristenlauf beginnt am Tag nach der öffentlichen Verkündung der endgültigen Entscheidung oder, wenn keine Verkündung erfolgt, am Tag nach der Zustellung an den Beschwerdeführer oder dessen Vertreter. Ist der Beschwerdeführer bzw. dessen Vertreter bei der Verkündung der Entscheidung nicht anwesend, bekommt aber im Anschluss daran eine Abschrift der Entscheidung zugestellt, so beginnt der Fristenlauf am Tag nach der Zustellung. Im Zweifel wird auf die Zustellung abgestellt. Dies entspricht auch der ratio der Fristenregelung, namentlich dem potenziellen Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, das Ob und Wie der Erhebung einer Individualbeschwerde in Ruhe zu durchdenken. Ohne Kenntnis der letzten innerstaatlichen Entscheidung ist ihm dies unmöglich. Wird der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten, beginnt der Fristenlauf an dem Tag, der auf den Tag folgt, an dem der Anwalt von der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung Kenntnis erlangt hat. Dies gilt auch dann, wenn der Beschwerdeführer selbst erst danach von der Entscheidung Kenntnis erlangt. Dies entspricht dem Ansatz im deutschen Recht, nach dem die Zustellung zwingend gegenüber dem Prozessbevollmächtigten einer Partei zu erfolgen hat (§ 172 Abs. 1 S. 1 ZPO).
Die Einlegung ineffektiver Rechtsbehelfe unterbricht nicht den Fristenlauf, eine innerstaatliche Entscheidung über einen offensichtlich ineffektiven Rechtsbehelf löst keine neue Frist aus. Anders verhält es sich, wenn der Beschwerdeführer mit vertretbaren und zuvor nicht vorgebrachten Argumenten versucht hat, ein Gericht zur Aufgabe seiner ständigen Rechtsprechung zu veranlassen, zumal wenn diese konventionsrechtlich bedenklich erscheint. Ein Risiko besteht daher immer, wenn ein erwartungsgemäß ineffektiver nationaler Rechtsbehelf eingelegt und erst nach der Entscheidung darüber Individualbeschwerde eingelegt wird. In solchen Fällen sollte der Anwalt vorsichtshalber parallel zum nationalen Verfahren die Einlegung der Individualbeschwerde empfehlen. Steht allerdings von Anfang fest, dass dem Beschwerdeführer gar kein effektiver innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht, beginnt die Frist an dem Tag, an dem die gerügte hoheitliche Maßnahme vorgenommen wurde oder an dem Tag, an dem der Beschwerdeführer von dem Handeln direkt betroffen war, sich des Handelns bewusst wurde oder von den negativen Folgen Kenntnis erlangte.
Bei andauernden Sachverhalten gelten, je nach Einzelfall, Besonderheiten bzgl. des Fristerfordernisses und Fristenlaufs. Im Grundsatz beginnt die Frist mit dem Ende der fortdauernden Situation, wenn eine behauptete Rechtsverletzung eine fortdauernde Situation darstellt und kein Rechtsbehelf zu ihrer Behebung zur Verfügung steht. Mit anderen Worten: Die Sechsmonatsfrist beginnt nicht zu laufen, solange die Situation noch andauert.
Die Kasuistik des EGMR zur Sechsmonatsfrist in Art. 35 Abs. 1 EMRK ist insgesamt nicht besonders konsistent, insbesondere der Zeitpunkt des Beginns des Fristenlaufs kann je nach zugrunde liegendem Sachverhalt stark variieren. Hier ist eine besonders aufmerksame anwaltliche Prüfung der aktuellen Rechtsprechung des EGMR bezogen auf die jeweilige Fallkonstellation geboten.