A. Besonderheit im Bußgeldverfahren
I. Allgemeines
Rz. 1
Hält das Gericht eine Hauptverhandlung für entbehrlich, kann es – unabhängig von der Höhe der Geldbuße und auch wenn es um ein Fahrverbot geht – unter den im § 72 OWiG genannten Voraussetzungen im schriftlichen Verfahren entscheiden.
Rz. 2
Das schriftliche Verfahren kommt immer dann in Betracht, wenn nach der Aktenlage der Sachverhalt als solcher geklärt ist. Es gilt dann das Verbot der Schlechterstellung (§ 72 Abs. 3 OWiG).
II. Taktik
Rz. 3
Die Erfahrung lehrt, dass Gerichte im Beschlussverfahren fast nie von dem Bußgeldbescheid abweichen, so dass zu einer bedingungslosen Zustimmung nur in Ausnahmefällen geraten werden kann. Andererseits gibt das Verfahren dem Verteidiger die Möglichkeit zu testen, wie das Gericht die Sache sieht.
Rz. 4
Die aktuelle Auffassung des Gerichtes erfährt der Verteidiger am ehesten dadurch, dass er von sich aus anregt, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden, dabei aber seine Zustimmung von bestimmten Bedingungen abhängig macht.
Rz. 5
Verfügt das Gericht dann einen Hauptverhandlungstermin, anstatt im Beschlussverfahren zu entscheiden, weiß der Verteidiger, dass sich die Einschätzung des Gerichtes nicht mit seiner eigenen deckt. Ihm muss nun auch klar sein, dass er ohne weitere Aktivitäten sein Ziel nicht erreichen wird.
Rz. 6
Achtung: Begründung
Der Richter braucht jetzt den Beschluss nicht mehr zu begründen, wenn die am Verfahren Beteiligten hierauf verzichten. Es reicht dann der Hinweis auf den Bußgeldbescheid. Die Begründung muss (innerhalb von vier Wochen) nachgeholt werden, wenn gegen den Beschluss Rechtsbeschwerde eingelegt wird.
Rz. 7
Ein rechtzeitig erklärter Verzicht auf die Begründung kann deshalb die Bereitschaft des Richters fördern, im Beschlussverfahren zu entscheiden.
Rz. 8
Tipp: Befriedungsgebühr
Die Befriedungsgebühr des RVG gem. Nr. 5115 Abs. 1 Nr. 5 VV RVG steht dem Verteidiger auch dann zu, wenn das Gericht unter seiner Mitwirkung ohne Hauptverhandlung im Beschlussverfahren gem. § 72 OWiG entscheidet.
B. Zulässigkeitsvoraussetzungen
I. Richterlicher Hinweis
1. Ausdrücklicher Hinweis
Rz. 9
Das Gericht hat dem Betroffenen Gelegenheit zum Widerspruch zu geben (§ 72 Abs. 1 S. 2 OWiG). Dieser Hinweis muss ausdrücklich (OLG Koblenz zfs 2005, 102) und von dem mit der Sache befassten und nicht einem früher zuständigen Gericht gegeben werden (OLG Düsseldorf NZV 2010, 162). Es reicht nicht, dass die Absicht des Gerichtes anlässlich der Akteneinsicht erkennbar war (OLG Köln NZV 1992, 261).
2. Hinweis nicht erforderlich, wenn Anregung vom Betroffenen ausging
Rz. 10
Ein Hinweis ist dann entbehrlich, wenn der Betroffene oder sein Verteidiger selbst angeregt haben, im Beschlussverfahren zu entscheiden (OLG Hamm NZV 1993, 324).
II. Zustellung
1. Förmliche Zustellung
Rz. 11
Nach h.M. ist die förmliche Zustellung des Hinweises Zulässigkeitsvoraussetzung für das Beschlussverfahren (OLG Köln NZV 1992, 461; BayObLG NZV 1994, 492; OLG Koblenz zfs 2005, 102; a.M. OLG Düsseldorf NZV 1990, 163).
2. Zustellung an Verteidiger nicht notwendig
Rz. 12
Seit der Reform des Ordnungswidrigkeitengesetzes von 1987 braucht der Hinweis nicht mehr – wie früher (BGHSt 26, 379) – dem Verteidiger förmlich zugestellt zu werden. Es genügt ein Hinweis an den Betroffenen (BayObLG NZV 1989, 161).
Rz. 13
Wird der Hinweis dem Betroffenen selbst zugestellt, ist der Verteidiger – wie bei allen an seinen Mandanten bewirkten Zustellungen – zu benachrichtigen. Eine eventuelle Verletzung der Benachrichtigungspflicht berührt jedoch die Wirksamkeit der Zustellung nicht. Freilich kann – was gängige Praxis ist – auch an den Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet (§ 145a Abs. 1 StPO), zugestellt werden.
III. Belehrung
Rz. 14
Das Gericht muss darüber belehren, dass im Falle einer zulässigen Beschlussentscheidung die Rechtsbeschwerde ausgeschlossen ist (BayObLG DAR 1981, 388).
Rz. 15
Tipp
Ist die in § 72 Abs. 1 S. 1 OWiG vorgeschriebene Belehrung nicht oder nur unvollständig, fehlerhaft oder irreführend erfolgt, ist in entsprechender Anwendung des § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 OWiG die Rechtsbeschwerde zulässig (OLG Düsseldorf DAR 1999, 129).
Rz. 16
Die Belehrungspflicht entfällt, wenn die Anregung zur Beschlussentscheidung von dem Betroffenen oder seinem Verteidiger ausgegangen ist (OLG Hamm NZV 1993, 324).
IV. Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen
Rz. 17
In dem Antrag auf Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen liegt noch kein Einverständnis des Betroffenen zum Beschlussverfahren (OLG Koblenz zfs 2005, 102).
V. Schweigen
1. Als Zustimmung
Rz. 18
Schweigt der Betroffene, kann das Gericht von seinem stillschweigenden Einverständnis ausgehen (BGHSt 24, 29). Eine Einverständniserklärung kann auch darin gesehen werden, dass der Verteidiger die Anfrage nur mit einem Ersuchen um Akteneinsicht beantwortet und dann die Akte ohne weitere Erklärung zurücksendet (OLG Karlsruhe NZV 1996, 211).
2. Auf erneute Anfrage
Rz. 19
Dagegen darf das Schweigen eines Betroffenen auf eine erneute Anfrage nicht als Zustimmung gedeutet werden, wenn er zuvor bereits widersprochen hatte (OLG Schleswig NZV 2005, 110; OLG Hamm zfs 2012, 232; OLG Hamm zfs 2013, 653).
VI. Widerspruch
1. Auslegungsfähige Erklärung
Rz. 20
Der Widerspruch muss nicht ausdrücklich erklärt werden. Es genügt, dass er als solcher erkennbar ist (OLG Hamm NZV 1994, 92). Allerdings stellt das im Einspruch gegen den Bußgeldbescheid enthalte...