I. Einordnung
Rz. 117
Der Vorbehalt des ordre public ist in Deutschland in Art. 6 EGBGB normiert. Danach ist die Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Die jeweilige Norm ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Dieser Vorbehalt gilt auch im internationalen Erbrecht.
Rz. 118
In der Europäischen Erbrechtsverordnung (EU) 650/2012) als auch in der Europäischen Güterrechtsverordnung (EU) 2016/1103) ist der Vorbehalt des ordre public geregelt. Art. 35 EuErbVO bzw. Art. 31 EuGüVO gestatten die Nichtanwendung einer Vorschrift des nach der Verordnung beschriebenen Rechts eines anderen Staates, wenn ihre Anwendung nicht mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts vereinbar ist.
Rz. 119
Zu den Grundsätzen des ordre public gilt es noch auszuführen, dass es international anerkannt ist, dass der Vorbehalt der Grundwerte einer jeweiligen Rechtsordnung einen ganz elementaren Bestandteil des jeweiligen Kollisionsrechts darstellt. Insoweit gilt dies nicht nur für das deutsche Internationale Privatrecht nach Art. 6 EGBGB, sondern freilich auch für das nunmehr einheitliche internationale Kollisionsrecht nach Art. 35 EuErbVO.
Rz. 120
Vereinfacht ausgedrückt lässt sich also sagen, dass sich im jeweiligen ordre public eines Landes die grundlegenden inländischen Wertvorstellungen widerspiegeln und ein Verstoß gegen diesen ein Verstoß gegen wesentliche innerstaatliche Rechtsgrundsätze bedeutet. Bezüglich der Gewichtung und Einordnung eines möglichen Verstoßes wurde der nachfolgende Merksatz formuliert: Je stärker der Inlandsbezug ist, umso größeres Gewicht haben deutsche Wertvorstellungen. Je geringer der Inlandsbezug ist, umso größer muss der Verstoß sein. Für den EuGH zählen zum ordre public auch nationale Vorschriften, sodass dies für deutsche Gerichte bedeutet, dass sie auch bei Erbfällen nach dem 17.8.2015, also nach Einführung der EuErbVO, die bislang geltende Rechtsprechung zum ordre public heranziehen können.
Rz. 121
Historisch im Brennpunkt eines ordre public-Verstoßes war seinerzeit das sowjetische Erbrecht, das zunächst kein Verwandtenerbrecht kannte. Auch in erbrechtlichen Vorschriften anderer sozialistischer Staaten wurde das Verwandtenerbrecht oft stark eingeschränkt. Aktuell im Brennpunkt befinden sich die islamischen Erbrechtsordnungen, dort insbesondere die geschlechterspezifische Ungleichbehandlung von Frauen als Erben.
II. Überblick über konstatierte Verstöße
Rz. 122
Verstöße gegen den deutschen ordre public wurden in den nachfolgenden Fällen festgestellt:
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Diskriminierung von Angehörigen des Erblassers, von Gesetzes wegen, aufgrund ihres Geschlechts |
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Diskriminierung der Erben aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit |
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Vollständiger Ausschluss eines "ungläubigen Kindes und der Ehefrau" von der Erbfolge. |
Weitere Fälle sind die gesetzliche Versagung jeglichen Erbrechts bzw. der Ausschluss von der Erbfolge aufgrund von Diskriminierung.
Des Weiteren geht man zwischenzeitlich auch dann von einem ordre public-Verstoß aus, wenn eine Erbrechtsordnung überhaupt keinen Pflichtteil oder Noterbenrecht kennt, ohne dass es anderweitige gesetzliche Ansprüche gegen den Erben zur Unterhaltssicherung gibt. Fällt eine enterbte Person aus diesem Grund in die staatliche Fürsorge (Sozialhilfe), so geht man von einem ordre public-Verstoß aus. Darüber hinaus hat das BverfG festgestellt, dass die Mindestbeteiligung am Nachlass Grundrechtscharakter nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG hat, soweit es um die leiblichen Abkömmlinge eines Erblassers geht. Aktuellster Fall, in welchem einem leiblichen Abkömmling der Pflichtteil auf Grundlage deutschen Rechts zugesprochen wurde, ist ein Fall, bei welchem sich der Testator mittels Rechtswahl in das englische Recht wählte, wissend, dass es dort keinen Pflichtteil gibt. Der BGH bejahte zunächst einen starken Inlandsbezug und sah in der Rechtswahl und der vollständigen Pflichtteilsversagung nach englischem Recht einen Verstoß gegen den Deutschen ordre public und hob die Entscheidung des OLG Köln entsprechend auf. Dabei führte der BGH aus, dass das englische Recht zu der nach deutschem Recht verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch steht, dass dessen Anwendung im diesem konkreten Fall untragbar war. Dies wiederum habe zur...