I. Allgemeines
Rz. 2
Gemäß § 77 OWiG gilt auch im Bußgeldverfahren der Grundsatz der "Aufklärungspflicht von Amts wegen". Allerdings soll das Gericht bei der Bestimmung des Umfanges der Beweisaufnahme auch die Bedeutung der Sache berücksichtigen, "weil die Verwirklichung des Zieles, die materielle Wahrheit zu erforschen, nicht dazu führen dürfe, auch bei der geringfügigsten Sache jede nur denkbare Erkenntnisquelle bis auf den letzten Rest auszuschöpfen", so die Begründung des Regierungsentwurfes zum OWi-Änderungsgesetz.
Rz. 3
Der Gesetzgeber hat damit eine Lockerung der Beweiserhebungspflicht gewollt. Das hat zur Folge, dass nicht in jedem Fall sämtliche Beweismittel zum Tragen kommen müssen und z.B. nach einem Verkehrsunfall mit hohem Sachschaden die Vernehmung sämtlicher Zeugen eher geboten sein kann als nach einem Bagatellunfall.
II. Pflichtgemäßes Ermessen
1. Beweiserhebung von Amts wegen
Rz. 4
Trotz der Lockerung der Beweiserhebungspflicht kann das Gericht nicht nach Belieben verfahren. Es muss vielmehr – auch ohne Beweisantrag – Beweis erheben, wenn die Sachlage unter Berücksichtigung des Akteninhaltes und des Verfahrensablaufes die Erhebung weiterer Beweise aufdrängt (OLG Düsseldorf VRS 85, 124), denn das dem Richter für die Bestimmung des Umfanges der Beweisaufnahme eingeräumte Ermessen findet immer noch seine Grenzen in der Pflicht zur Sachaufklärung (OLG Düsseldorf NZV 1992, 292; OLG Hamm NZV 1993, 361; KG NZV 2007, 584).
2. Keine Beweislast oder Mitwirkungspflicht
Rz. 5
Den Betroffenen trifft nach wie vor weder eine Darlegungs- noch eine Beweislast (OLG Hamm DAR 2000, 580). Zur Mitwirkung, z.B. bei der Täterfeststellung, ist er gleichfalls nicht verpflichtet (OLG Koblenz DAR 1987, 296; OLG Naumburg zfs 1995, 356).
III. Achtung: Präsente Beweismittel
Rz. 6
Anders als im Strafverfahren muss das Gericht im Bußgeldverfahren die Beweisaufnahme nicht auf präsente Beweismittel erstrecken (OLG Köln zfs 2014, 530; OLG Hamm zfs 2014, 651). § 77 Abs. 1 OWiG stellt insoweit eine abschließende, die Anwendbarkeit von § 245 StPO ausschließende Regelung dar. Aus diesem Grund braucht der Richter ohne einen Beweisantrag der Verteidigung nicht einmal die bei den Akten befindlichen Beweismittel, wie z.B. eine Tachoscheibe, zu berücksichtigen (OLG Düsseldorf VRS 77, 228).
Tipp: Von der Verteidigung vorgelegtes Sachverständigengutachten
Auch im Bußgeldverfahren muss das Gericht die Beweisaufnahme auf die inhaltliche Würdigung eines von der Verteidigung vorgelegten Gutachtens erstrecken und deshalb im Urteil entweder dessen Inhalt mitteilen oder sich in anderer Form inhaltlich damit auseinandersetzen. Hat das Gericht das nicht getan, ist das Urteil bereits auf die Sachrüge hin aufzuheben (OLG Jena DAR 2013, 161).
IV. Antrag auf kommissarische Vernehmung
Rz. 7
Die kommissarische Vernehmung ist durch die OWi-Reform vom 1.3.1998 abgeschafft worden. Der Betroffene kann sich jetzt nur noch unmittelbar gegenüber dem erkennenden Gericht äußern. Die von Göhler noch in der 13. Auflage und OLG Celle (zfs 1999, 83) vertretene gegenteilige Auffassung ist durch die Entscheidung des BGH (NZV 1999, 257) überholt.