A. Allgemeines
Rz. 1
Hinweis
Siehe zum Prozessrecht auch §§ 20 Rdn 59 ff., § 49 Rdn 1 ff. sowie § 50 Rdn 1 ff.
Im Bußgeldverfahren erfahren die Beweisregeln der StPO durch die §§ 77, 77a OWiG wesentliche Einschränkungen. Dies gilt vor allem für den Umfang der Beweisaufnahme.
B. Aufklärungspflicht
I. Allgemeines
Rz. 2
Gemäß § 77 OWiG gilt auch im Bußgeldverfahren der Grundsatz der "Aufklärungspflicht von Amts wegen". Allerdings soll das Gericht bei der Bestimmung des Umfanges der Beweisaufnahme auch die Bedeutung der Sache berücksichtigen, "weil die Verwirklichung des Zieles, die materielle Wahrheit zu erforschen, nicht dazu führen dürfe, auch bei der geringfügigsten Sache jede nur denkbare Erkenntnisquelle bis auf den letzten Rest auszuschöpfen", so die Begründung des Regierungsentwurfes zum OWi-Änderungsgesetz.
Rz. 3
Der Gesetzgeber hat damit eine Lockerung der Beweiserhebungspflicht gewollt. Das hat zur Folge, dass nicht in jedem Fall sämtliche Beweismittel zum Tragen kommen müssen und z.B. nach einem Verkehrsunfall mit hohem Sachschaden die Vernehmung sämtlicher Zeugen eher geboten sein kann als nach einem Bagatellunfall.
II. Pflichtgemäßes Ermessen
1. Beweiserhebung von Amts wegen
Rz. 4
Trotz der Lockerung der Beweiserhebungspflicht kann das Gericht nicht nach Belieben verfahren. Es muss vielmehr – auch ohne Beweisantrag – Beweis erheben, wenn die Sachlage unter Berücksichtigung des Akteninhaltes und des Verfahrensablaufes die Erhebung weiterer Beweise aufdrängt (OLG Düsseldorf VRS 85, 124), denn das dem Richter für die Bestimmung des Umfanges der Beweisaufnahme eingeräumte Ermessen findet immer noch seine Grenzen in der Pflicht zur Sachaufklärung (OLG Düsseldorf NZV 1992, 292; OLG Hamm NZV 1993, 361; KG NZV 2007, 584).
2. Keine Beweislast oder Mitwirkungspflicht
Rz. 5
Den Betroffenen trifft nach wie vor weder eine Darlegungs- noch eine Beweislast (OLG Hamm DAR 2000, 580). Zur Mitwirkung, z.B. bei der Täterfeststellung, ist er gleichfalls nicht verpflichtet (OLG Koblenz DAR 1987, 296; OLG Naumburg zfs 1995, 356).
III. Achtung: Präsente Beweismittel
Rz. 6
Anders als im Strafverfahren muss das Gericht im Bußgeldverfahren die Beweisaufnahme nicht auf präsente Beweismittel erstrecken (OLG Köln zfs 2014, 530; OLG Hamm zfs 2014, 651). § 77 Abs. 1 OWiG stellt insoweit eine abschließende, die Anwendbarkeit von § 245 StPO ausschließende Regelung dar. Aus diesem Grund braucht der Richter ohne einen Beweisantrag der Verteidigung nicht einmal die bei den Akten befindlichen Beweismittel, wie z.B. eine Tachoscheibe, zu berücksichtigen (OLG Düsseldorf VRS 77, 228).
Tipp: Von der Verteidigung vorgelegtes Sachverständigengutachten
Auch im Bußgeldverfahren muss das Gericht die Beweisaufnahme auf die inhaltliche Würdigung eines von der Verteidigung vorgelegten Gutachtens erstrecken und deshalb im Urteil entweder dessen Inhalt mitteilen oder sich in anderer Form inhaltlich damit auseinandersetzen. Hat das Gericht das nicht getan, ist das Urteil bereits auf die Sachrüge hin aufzuheben (OLG Jena DAR 2013, 161).
IV. Antrag auf kommissarische Vernehmung
Rz. 7
Die kommissarische Vernehmung ist durch die OWi-Reform vom 1.3.1998 abgeschafft worden. Der Betroffene kann sich jetzt nur noch unmittelbar gegenüber dem erkennenden Gericht äußern. Die von Göhler noch in der 13. Auflage und OLG Celle (zfs 1999, 83) vertretene gegenteilige Auffassung ist durch die Entscheidung des BGH (NZV 1999, 257) überholt.
C. Inbegriff der Hauptverhandlung
Rz. 8
Auch im Bußgeldverfahren wird die Beweisaufnahme grundsätzlich nur in der Hauptverhandlung und nach den Regeln des Strengbeweises durchgeführt, so dass Beweismittel nur in der vom Gesetz vorgeschriebenen Form eingeführt und verwertet werden dürfen, d.h. die im Urteil getroffenen Feststellungen müssen auf Beweismitteln beruhen, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne der § 261 StPO, § 46 OWiG gemacht worden sind (OLG Koblenz zfs 2014, 176). Eine Bezugnahme, etwa auf Aktenteile, ist dagegen auch im Bußgeldverfahren unzulässig, lediglich auf Abbildungen wie z.B. Fahrerfotos, kann im Rahmen der Beweisaufnahme prozessordnungsgemäß (§ 267 Abs. 1, 3 StPO, § 46 OWiG) Bezug genommen werden (OLG Bamberg NZV 2008, 166; OLG Düsseldorf DAR 2011, 408).
Da die Art und Weise, wie die Beweisaufnahme erfolgt ist, zu den wesentlichen und in das Protokoll aufzunehmenden Förmlichkeiten gem. § 273 StPO, § 46 OWiG gehört und § 274 StPO sowie § 46 OWiG für die Richtigkeit und Vollständigkeit des Protokolls streiten, ist das Urteil fehlerhaft, wenn sich aus dem Protokoll nicht ergibt, wie die Beweismittel zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden sind (OLG Hamm zfs 2010, 215; OLG Hamm zfs 2002, 171; OLG Celle NZV 2010, 414; OLG Koblenz zfs 2014, 176).
Achtung: Rechtsbeschwerde
Eine Rechtsbeschwerde, die rügt, das Urteil beruhe auf einem nicht ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismittel, kann sich z.B. im Falle der Verwertung einer Urkunde nicht auf den Vortrag beschränken, diese sei nicht ordnungsgemäß gemäß § 249 StPO verlesen worden, sondern muss unter konkreter Benennung der möglichen Alternativen vortragen, dass das Beweismittel auch nicht in anderer vom Gesetz zugelassenen Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist (BGH NJW ...