Rz. 95
Die Kollision unterschiedlicher Kollisionsrechte – internationaler Entscheidungsdissens – ist nicht zu verwechseln mit dem Bestehen mehrerer Erbstatute nebeneinander. Gemeint ist im vorliegenden Fall also nicht die allein die abweichende Bestimmung des Erbstatuts aus ausländischer Sicht mit der Folge von Einzelstatuten. Gemeint sind vielmehr die Fälle, in denen die Kollisionsrechtliche Prüfung aus Sicht eines Drittstaates zu einem anderen Ergebnis gelangt als die Prüfung nach der EuErbVO.
Rz. 96
Nach Inkrafttreten der EuErbVO gilt ganz grundsätzlich der Grundsatz der Nachlasseinheit gemäß Art. 21 Abs. 1 EuErbVO für den Gesamtnachlass. Eine Beachtung von Belegenheitsrechten (Einzelstatut), wie sie in Art. 3a EGBGB kodifiziert ist, findet ganz grundsätzlich nicht mehr statt. Darüber hinaus werden Verweise in andere Rechtskreise in Art. 34 EuErbVO nur noch in ganz speziellem Umfang gestattet. Die EuErbVO wird das Entstehen von Nachlassspaltungen durch Belegenheitsrechte lex rei sitae also massiv reduzieren.
Rz. 97
Und dennoch kann es auch nach Einführung der EuErbVO zu einer Kollision der Kollisionsrechte kommen. Zwar ist dies im europäischen Kontext de facto nunmehr ausgeschlossen, im Verhältnis zu anderen Drittstaaten, insbesondere Commonwealth Staaten, ist eine Kollision jedoch nach wie vor möglich. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Fälle, in welche sich mehre Rechtsordnungen für selbst oder ein anderes Recht für zuständig erklären (positiver Rechtsanwendungskonflikt).
Rz. 98
Beispiel
Ein amerikanischer Staatsbürger mit letztem gewöhnlichen Aufenthalt i.S.v. Art. 21 Abs. 1 EuErbVO verstirbt in Frankfurt am Main. Seinen beiden Kindern hinterlässt er bewegliches und unbewegliches Vermögen in Deutschland sowie bewegliches und unbewegliches Vermögen in Florida (USA). Aus deutscher Sicht findet auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gem. Art. 21 Abs. 1 EuErbVO ausschließlich deutsches Erbrecht Anwendung. Diese gilt aus deutscher Sicht für den Gesamtnachlass. Die EuErbVO unterscheidet nicht zwischen der Belegenheit einzelner Nachlassgegenstände und auch nicht mehr anhand der Staatsangehörigkeit des Erblassers.
In dem US-Bundesstaat Florida hingegen wird zwischen beweglichem und unbeweglichem Vermögen zur Bestimmung des Erbstatuts unterschieden. Aus der erbrechtlichen Sicht Floridas unterliegt unbewegliches Vermögen stets dem Belegenheitsrecht des Staates, in welchem es belegen ist (lex rei sitae), wohingegen zur Bestimmung beweglichen Vermögens auf das letzte Domizil des Erblassers abgestellt wird. Aus deutscher Sicht findet jedoch, über Art. 21 Abs. 1 EuErbVO auch auf die in Florida belegene Immobilie deutsches Erbrecht Anwendung.
Damit findet aus deutscher Sicht ausschließlich deutsches Erbrecht statt, wohingegen aus der Sicht Floridas eine Nachlassspaltung eintritt. Der gesamte bewegliche Nachlass unterliegt deutschem Recht, wohingegen die Immobilie in Florida nach Erbrecht Floridas vererbt wird. Damit geht einher, dass der Nachlass zuerst von einem Administrator verwaltet und den Erben übergeben wird.
Rz. 99
Damit entsteht ein sogenannter Entscheidungsdissens. Zwei Rechtsordnungen erklären sich für parallel anwendbar. In dem oben skizzierten Beispiel kollidieren die jeweiligen Kollisionsrechte. Auf den ersten Blick scheint dieses nicht selten vorkommende Problem nicht weiter schwerwiegend zu sein. Insbesondere dann, wenn sich alle Erben einig sind und aus einem der beiden betroffenen Länder stammen, kann dieses Problem unentschieden bleiben, solange nur Einigkeit zwischen den Erben herrscht. Es wird jedoch dann zum Problem, wenn durch Erben aus beiden Ländern Rechte hergeleitet werden. Im Streitfall wird kein amerikanisches Kreditinstitut mehr eine Auszahlung in der oben beschriebenen vorliegenden Fallkonstellation nach Vorlage eines deutschen Erbscheins oder eines ENZ vornehmen. Es kommt zum Streit der Erben um das "richtige" Erbstatut.
Rz. 100
Besonders prekär wird die Situation dann, wenn bei Vorliegen eines Entscheidungsdissens eine testamentarische Verfügung einige nahe Angehörige enterbt. Legt man nämlich noch einmal den oben skizzierten Fall zugrunde, so würden den Enterbten nach amerikanischem Recht keine Pflichtteilsrechte zustehen, nach deutschem Recht jedoch sehr wohl.
Rz. 101
Diese prekäre Situation des Entscheidungsdissenses setzt sich bei der Erbengemeinschaft fort, da sich Entstehung und Struktur der Erbengemeinschaft nach dem Erbstatut richten. Das bedeutet, dass aus der Sicht eines jeden Landes die Beteiligung am Nachlass (Gesamthand, Bruchteil oder Gütergemeinschaft) anders betrachtet wird. Freilich gilt dies auch für den Fall der Auseinandersetzung, Vertretung und Verwaltung der Erbengemeinschaft. Da, wie bereits erwähnt, dieses Problem in Europa nicht selten war, wurde unter anderem in der EuErbVO eine fast europaweite Harmonisierung des Erbstatuts vorgenommen (mit Ausnahme von Dänemark, Irland und Großbritannien) unter Beachtung des Grundsatzes des Nachlassein...