I. Einordnung
Rz. 121
Der Vorbehalt des ordre public ist in Deutschland in Art. 6 EGBGB normiert. Danach ist die Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Die jeweilige Norm ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Dieser Vorbehalt gilt auch im internationalen Erbrecht.
Rz. 122
In der Europäischen Erbrechtsverordnung ist der Vorbehalt des ordre public in Art. 35 EuErbVO geregelt. Art. 35 EuErbVO gestattet die Nichtanwendung einer Vorschrift des nach der Verordnung beschriebenen Rechts eines anderen Staates, wenn ihre Anwendung nicht mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts vereinbar ist.
Rz. 123
Zu den Grundsätzen des ordre public gilt es noch auszuführen, dass es international anerkannt ist, dass der Vorbehalt der Grundwerte einer jeweiligen Rechtsordnung einen ganz elementaren Bestandteil des jeweiligen Kollisionsrechts darstellt. Insoweit gilt dies nicht nur für das deutsche Internationale Privatrecht nach Art. 6 EGBGB, sondern freilich auch für das nunmehr einheitliche internationale Kollisionsrecht nach Art. 35 EuErbVO.
Rz. 124
Vereinfacht ausgedrückt lässt sich also sagen, dass sich im jeweiligen ordre public eines Landes die grundlegenden inländischen Wertvorstellungen widerspiegeln und ein Verstoß gegen diesen ein Verstoß gegen wesentliche innerstaatliche Rechtsgrundsätze bedeutet. Bezüglich der Gewichtung und Einordnung eines möglichen Verstoßes wurde der nachfolgende Merksatz formuliert: Je stärker der Inlandsbezug ist, umso größeres Gewicht haben deutsche Wertvorstellungen. Je geringer der Inlandsbezug ist, umso größer muss der Verstoß sein. Für den EuGH zählen zum ordre public auch nationale Vorschriften, sodass dies für deutsche Gerichte bedeutet, dass sie auch bei Erbfällen nach dem 17.8.2015, also nach Einführung der EuErbVO, die bislang geltende Rechtsprechung zum ordre public heranziehen können.
Rz. 125
Historisch im Brennpunkt eines ordre public-Verstoßes war seinerzeit das sowjetische Erbrecht, das zunächst kein Verwandtenerbrecht kannte. Auch in erbrechtlichen Vorschriften anderer sozialistischer Staaten wurde das Verwandtenerbrecht oft stark eingeschränkt. Aktuell im Brennpunkt befinden sich die islamischen Erbrechtsordnungen, dort insbesondere die geschlechterspezifische Ungleichbehandlung von Frauen als Erben.
II. Überblick über konstatierte Verstöße
Rz. 126
Verstöße gegen den deutschen ordre public wurden in den nachfolgenden Fällen festgestellt:
▪ |
Diskriminierung von Angehörigen des Erblassers, von Gesetzes wegen, aufgrund ihres Geschlechts |
▪ |
Diskriminierung der Erben aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit |
▪ |
Vollständiger Ausschluss eines "ungläubigen Kindes und der Ehefrau" von der Erbfolge. |
Weitere Fälle sind die gesetzliche Versagung jeglichen Erbrechts bzw. der Ausschluss von der Erbfolge aufgrund von Diskriminierung.
Des Weiteren geht man zwischenzeitlich auch dann von einem ordre public-Verstoß aus, wenn eine Erbrechtsordnung überhaupt keinen Pflichtteil oder Noterbenrecht kennt, ohne dass es anderweitige gesetzliche Ansprüche gegen den Erben zur Unterhaltssicherung gibt. Fällt eine enterbte Person aus diesem Grund in die staatliche Fürsorge (Sozialhilfe), so geht man von einem ordre public-Verstoß aus. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Mindestbeteiligung am Nachlass Grundrechtscharakter nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG hat, soweit es um die leiblichen Abkömmlinge eines Erblassers geht.
III. Rechtsfolge eines Verstoßes
Rz. 127
Art. 6 EGBGB schreibt als Rechtsfolge eines ordre public-Verstoßes vor, dass die entsprechende ausländische Rechtsnorm nicht angewendet bzw. nicht beachtet werden darf. Hieraus resultiert freilich eine Lücke. Wie diese zu füllen ist, verrät Art. 6 EGBGB nicht. Möglich wäre es in einem solchen Fall, die entstandene Lücke schlicht und einfach durch Rückgriff auf das jeweilige deutsche Recht zu beseitigen. Dies wird jedoch von der Rechtsprechung abgelehnt. Vielmehr soll nach Auffassung des BGH versucht werden, die entstandene Regelungslücke nach Möglichkeit mit dem jeweiligen Heimatrecht zu schließen.