Rz. 59
Nicht nur die unmittelbaren (primären) Luftschalleinwirkungen aus dem Betrieb von öffentlichen Verkehrsanlagen sind abwägungserhebliche Belange. Dasselbe gilt auch für alle anderen mit dem Betrieb der Anlage verbundenen Immissionen, wie Erschütterungen oder sonstige Gefährdungen der Anlieger.
Ausgangspunkt für die rechtliche Bewertung der durch die in § 41 BImSchG genannten Anlagen entstehenden Erschütterungen ist, dass auf diese § 41 BImSchG nicht anwendbar ist. Gegenstand von § 41 BImSchG sind allein Verkehrsgeräusche. Auch gibt es, anders als für primäre Luftschalleinwirkungen, keine normativen Festlegungen entsprechend der 16. BImSchV.
Ansprüche Betroffener auf reale Schutzvorkehrungen gegen Erschütterungen gründen sich somit nicht auf das Bundes-Immissionsschutzgesetz, sondern auf § 74 Abs. 2 S. 2 VwVfG. Ausgleichsansprüche (bei Untunlichkeit von Schutzvorkehrungen) können auf § 74 Abs. 2 S. 3 VwVfG gestützt werden.
Ist durch das Vorhaben mit einer wesentlichen/unzumutbaren Erhöhung der Erschütterungseinwirkungen zu rechnen, hat der Betroffene grundsätzlich einen Abwehranspruch (Art. 2 Abs. 2, Art. 14 GG) bzw. ist in der Planfeststellung eine Problembewältigung im Rahmen des § 74 Abs. 2 S. 2 und 3 VwVfG erforderlich. In Betracht kommen Schutzvorkehrungen oder geldwerte Ausgleichsansprüche. Dabei unterliegen eventuelle Ausgleichsansprüche nach der Rechtsprechung einer starken Modifikation, da die Höhe der Erschütterungseinwirkungen wesentlich bestimmt ist durch die bauliche Struktur der angrenzenden Anwesen.
Betroffene müssen sich vorhandene Vorbelastungen zurechnen lassen. Dies bedeutet, dass Erschütterungsvorbelastungen bei der Abwägung zu berücksichtigen sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BVerwG zum primären Luftschall vor Inkrafttreten der 16. BImSchV. Der Gedanke der Zurechnung von Vorbelastungen beruht darauf, dass es an der Kausalität des konkret planfestgestellten Vorhabens für Beeinträchtigungen fehlt, soweit solche Beeinträchtigungen bereits ohne das Vorhaben gegeben sind. Grundsätzlich sind daher Erschütterungen, die sich im Rahmen einer Vorbelastung halten, auch dann zumutbar, wenn sie die Anhaltswerte übersteigen.
Reale und geldwerte Ausgleichsansprüche bei Vorbelastung des Grundstücks mit Erschütterungen bestehen folglich nur insoweit, als das Hinzutreten weiterer Erschütterungseinwirkungen zu der vorhandenen Vorbelastung die Erschütterungen in beachtlicher Weise erhöht und gerade in dieser Erhöhung eine zusätzliche unzumutbare Beeinträchtigung liegt.
Eine Abweichung hierzu gilt nach der Rechtsprechung des BVerwG bei einer die Enteignungsschwelle überschreitenden Vorbelastung des Grundstücks. In diesem Fall wird der Abwehr-/Ausgleichsanspruch durch jede weitere Zunahme der Beeinträchtigung ausgelöst und dies unabhängig davon, ob gerade in der Erhöhung selbst eine unzumutbare Beeinträchtigung liegt. Wo die Enteignungsschwelle bei Erschütterungen liegt, ist eine Fachfrage. Rechtliches Kriterium für eine enteignende Wirkung von Erschütterungen ist, ob der Grundstückseigentümer durch die Stärke der Erschütterungen unerträglich und schwer in seinem Eigentum beeinträchtigt wird. Mangels rechtlich verbindlicher Festlegungen der Erheblichkeitsschwelle von Erschütterungen, ist für die Frage der Zumutbarkeit von Erschütterungen auf technische Regelwerke und sonstigen Sachverstand zurückzugreifen.
Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist mit Blick auf die Zumutbarkeit von Immissionen eine Einzelfallbetrachtung geboten. Hierbei greifen die Gerichte grundsätzlich auf Regelwerke der einschlägigen Fachwissenschaft/Technik als Ausdruck des maßgeblichen Sachverstandes zurück.
Sofern mit Bezug auf die Schädlichkeit von Immissionen kein Stand gesicherter Erkenntnis vorliegt, sondern in der Fachdiskussion unterschiedliche Meinungen über die Schwelle der Zumutbarkeit herrschen, ist es ratsam, auf die den Betroffenen am stärksten schützende Meinung abzustellen. Andernfalls läuft die Planung Gefahr, zu wenig Vorkehrungen für Betroffene festzusetzen und dadurch zumindest Planergänzungsansprüchen ausgesetzt zu sein.
Rz. 60
Zur Bestimmung der Zumutbarkeitsschwelle bei Erschütterungen wurde in der Rechtsprechung die DIN 4150 "Erschütterungen im Bauwesen", Teil 2, Einwirkungen auf Menschen, und Teil 3, Einwirkungen auf Gebäude, vom Dezember 1992 herangezogen.
Darüber hinaus könnte auch die VDI-Richtlinie 2057 – Einwirkungen mechanischer Schwingungen auf Menschen in Gebäuden – herangezogen werden. Diese bezieht sich aber auf Erschütterungen aus dem Bereich der Industrie und des Gewerbes und dürfte die Besonderheiten der Beeinträchtigung der Anwohner an Schienenstrecken nicht hinreichend würdigen. Auch dies ist aber letztlich Fachfrage.
Bei der Planfeststellung sind die betroffenen Belange mit Blick auf Erschütterungen sachgerecht zu ermitteln, abzuwägen und zu bewältigen. Deshalb ist die vorhandene Erschütterungssituation zu ermitteln und eine Prognose über die Veränderung des Ist-Zustands...