Rz. 608

Das vom BAG für die materielle Überprüfung von Eingriffen in Versorgungsanwartschaften mit der sog. Drei-Stufen-Theorie entwickelte Prüfungsschema kann nicht unbesehen auf Tarifverträge angewendet werden (BAG v. 25.5.2004 – 3 AZR 123/03, ZTR 2005, 263, zu B I 4 b bb [2] der Gründe; BAG v. 28.7.2005 – 3 AZR 549/04, juris; Langohr-Plato, jurisPR-ArbR 2/2006 Anm. 5). Die Tarifautonomie ist nämlich als Teil der Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützt (BVerfG, 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293). Den Tarifvertragsparteien steht daher bei der inhaltlichen Gestaltung ihrer Regelungen ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu (BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 146/03, BAGE 108, 95). Tarifverträge unterliegen deshalb keiner Billigkeitskontrolle. Die Gerichte haben sie nur daraufhin zu überprüfen, ob sie gegen das Grundgesetz oder anderes höherrangiges Recht verstoßen (BAG v. 24.8.1993 – 3 AZR 313/93, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 19; BAG v. 28.7.2005 – 3 AZR 549/04, juris; Langohr-Plato, jurisPR-ArbR 2/2006 Anm. 5).

 

Rz. 609

Allerdings sind die Tarifvertragsparteien – ebenso wie der Gesetzgeber – an die aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG normierten Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit gebunden (vgl. BAG v. 26.8.1997 – 3 AZR 235/96, BAGE 86, 216, 223; BAG v. 13.12.2005 – 3 AZR478/04, DB 2006, 1013). Auch sonst werden belastende Tarifnormen nach den allgemeinen Prinzipien des Vertrauensschutzes und des darauf beruhenden Rückwirkungsverbotes überprüft (vgl. BVerfG v. 15.10.1996 – 1 BvL 44, 48/92, BVerfGE 95, 64; BAG v. 15.11.2000 – 5 AZR 3210/99, BAGE 96, 249, 252 f.; BAG v. 16.7.1996 – 3 AZR 398/95, BAGE 83, 293, 297; BAG v. 13.12.2005 – 3 AZR 478/04, DB 2006, 1013).

 

Rz. 610

Die Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien erfasst auch die Betriebsrentner. Das folgt aus Art. 9 Abs. 3 GG, der in § 1 TVG lediglich aktualisiert wird (BAG v. 21.11.2006 – 3 AZR 309/05, NZA 2007, 1391; BAG v. 27.2.2007 – 3 AZR 734/05, NZA 2007, 1371). Insoweit gelten die vorstehenden Ausführungen zu Eingriffen in Versorgungsanwartschaften entsprechend. Auch hier ist das von der Rspr. entwickelte dreistufige Prüfungsschema nicht auf tarifvertragliche Änderungen übertragbar. Die Tarifvertragsparteien sind jedoch bei Eingriffen in laufende Betriebsrenten an die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit gebunden. Insoweit gilt:

 

Rz. 611

Eingriffe in künftige Betriebsrenten bedürfen besonderer rechtfertigender Gründe. Dabei ist das Interesse der Tarifvertragsparteien, die beanstandete Regelung auch auf Betriebsrentner anzuwenden, mit dem Interesse der Betriebsrentner am Fortbestand der bisherigen Regelung abzuwägen. Den Tarifvertragsparteien steht dabei ein Gestaltungsspielraum zu. In die zum Zeitpunkt des Versorgungsfalls geschuldete Ausgangsrente, die durch die Arbeitsleistung der Arbeitnehmer bereits verdient wurde, dürfen die Tarifvertragsparteien i.d.R. nicht eingreifen, soweit nicht bereits vor Entstehung des Anspruchs Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Tarifvertragsparteien verschlechternd eingreifen würden. Das BAG hat es in seiner Entscheidung v. 27.2.2007 (3 AZR 734/05, NZA 2007, 1371) ausdrücklich offengelassen, wann eine Ausnahme von diesem Regelfall vorliegt. Eine solche wäre z.B. in Anlehnung an die Regeln über die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) denkbar.

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