Dr. iur. Uwe Langohr-Plato
Rz. 585
Ist somit ein Eingriff in das bestehende Versorgungssystem nach den vorstehenden Ausführungen über den Widerruf grds. zulässig, so lässt sich daraus noch nichts über den Eingriffsumfang ableiten. Insoweit ist vielmehr neben dem Eingriffsgrund insb. auf den Besitzstand der Arbeitnehmer abzustellen.
Rz. 586
Der Besitzstand ist eine rechtliche Position des Arbeitnehmers, die auf Dauer angelegt ist, die also ungeachtet der weiteren Entwicklung im Zeitablauf fortbestehen soll, und die ohne rechtfertigenden Grund nicht wieder entzogen werden darf (BAG v. 22.9.1987 – 3 AZR 662/85, NZA 1988, 732). Eine Verschlechterung einer Versorgungszusage ist demnach nur dann zulässig, wenn die bereits erworbenen Rechtspositionen der Versorgungsberechtigten angemessen berücksichtigt werden. Die jeweilige Neuordnung unterliegt damit einer Rechts- und Billigkeitskontrolle durch die Gerichte (Hanau, RdA 1988, 69 ff.).
aa) Besitzstandswahrung
Rz. 587
Das BAG (v. 17.4.1985 – 3 AZR 72/83, NZA 1986, 57; BAG v. 22.5.1990 – 3 AZR 128/89, NZA 1990, 813; BAG v. 17.11.1992 – 3 AZR 76/92, NZA 1993, 939; BAG v. 18.3.2003 – 3 AZR 101/02, BB 2004, 948) hat in diesem Zusammenhang abstufende Kriterien (Drei-Stufen-Theorie) für den Eingriff in ein bestehendes betriebliches Versorgungswerk aufgestellt. Je nach Stärke des Besitzstandes setzt der Eingriff zwingende (erdienter Teilbetrag), triftige (erdiente Dynamik) oder sachliche Gründe (noch nicht erdiente Steigerungsbeträge) voraus.
Rz. 588
Erdienter Teilbetrag
Dieser Besitzstand kennzeichnet den Betrag, den der Arbeitnehmer beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis mitnehmen und im späteren Versorgungsfall verlangen kann (Langohr-Plato, Betriebliche Altersversorgung, Rn 1581 f.). Da dieser Teilanspruch voll mit Betriebstreue belegt ist, der Arbeitnehmer insoweit also seine Vorleistung vollständig erbracht hat, muss dieser Besitzstand besonders stark geschützt sein. Die Beseitigung würde rückwirkend schon verdientes Arbeitsentgelt entschädigungslos entziehen.
Rz. 589
Künftige Zuwächse
Wer nur die Aussicht hat, seine Altersversorgung durch weitere Dienste zu steigern, kann nicht den gleichen Bestandsschutz erwarten wie derjenige, der das ihm Mögliche und von ihm Verlangte schon geleistet hat. Zuwächse können aber von unterschiedlichen Bemessungsfaktoren abhängig sein. Das BAG nimmt daher eine weitere Differenzierung vor.
Rz. 590
Ist der von der Kürzung betroffene Bemessungsfaktor dienstzeitunabhängig, z.B. das Endgehalt, dann kann man für eine bis zum Versorgungsfall wachsende Versorgung schon in der Vergangenheit Betriebstreue geleistet haben. Der Arbeitnehmer kann z.B. 20 Jahre Dienst erbracht und so eine bis zum Ruhestandsalter zeitanteilig berechenbare Quote vom Endgehalt erdient haben. Hierfür hat sich die Bezeichnung "erdiente Dynamik" eingebürgert.
Rz. 591
Der Bemessungsfaktor kann aber auch rein dienstzeitabhängig sein, etwa in einem jährlich erst zu erdienenden Festbetrag bestehen oder in einem jährlich anzurechnenden Prozentsatz von einem anderen Faktor, z.B. dem Endgehalt. Auf die Berücksichtigung solcher Faktoren hat der Arbeitnehmer zwar einen Anspruch – die Berechnung ist ja zugesagt – aber dafür hat er noch keine eigene Vorleistung erbracht. Dieser Anspruch ist noch weniger bestandsgesichert als die zeitanteilig erdiente Dynamik. Hier werden allgemeine Lebensrisiken manifest.
bb) Eingriffsgrund
Rz. 592
Auch die Gründe, die Veranlassung geben, ein bestehendes Versorgungswerk zum Nachteil der Arbeitnehmer einzuschränken, können von ganz unterschiedlichem Gewicht sein. Ein Arbeitgeber kann vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen, er kann aber auch "bloß" unternehmenspolitische Ziele verfolgen. Akzeptiert man, dass es sowohl Besitzstände als auch Eingriffsgründe von unterschiedlicher Stärke gibt, dann muss man auch anerkennen, dass der Eingriffsgrund umso gewichtiger sein muss, je stärker der Besitzstand ist, in den eingegriffen werden soll. Diese "Je-Desto-Regel" ist nichts anderes als die zivilrechtliche Ausprägung der Verfassungsgrundsätze der Verhältnismäßigkeit und des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes (BAG v. 23.10.1990 – 3 AZR 260/89, NZA 1991, 242). Hiervon ausgehend unterscheidet die Rspr. die verschiedenen Gewichte der Eingriffsgründe wie folgt (vgl. u.a. BAG v. 17.4.1985 – 3 AZR 72/83, NZA 1986, 57; BAG v. 17.3.1987 – 3 AZR 64/84, NZA 1987, 855; BAG v. 18.4.1989 – 3 AZR 688/87, NZA 1990, 67; BAG v. 17.11.1992 – 3 AZR 76/92, NZA 1993, 939; vgl. ferner Langohr-Plato, MDR 1994, 858):
Rz. 593
Zwingender Grund
Hierunter versteht das BAG die schwersten Gründe, die für einen Eingriff in bestehende Rechte infrage kommen. Bisher hat der Ruhegeldsenat zu zwei Fallvarianten Stellung genommen, die im Vertragsrecht auch ohne entsprechenden Vorbehalt die Lösung von eingegangenen Verpflichtungen erlauben, weil die Geschäftsgrundlage der Zusage erschüttert oder weggefallen ist: Der Fall der schweren wirtschaftlichen Notlage des Versorgungsschuldners und der Fall der planwidrigen Überversorgung durch Änderung der Rahmenbedingungen. Einmal w...