Dr. iur. Uwe Langohr-Plato
1. Betriebliche Übung
Rz. 60
Vertragliche Ansprüche individualrechtlicher Natur liegen auch dann vor, wenn sich der Arbeitnehmer zur Begründung seines Versorgungsanspruches auf eine betriebliche Übung berufen kann. Hierbei handelt es sich nach allgemeiner Ansicht in Rspr. (BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, BB 1987, 265 = DB 1987, 383 = NZA 1987, 168) und Literatur (Blomeyer/Rolfs/Otto, BetrAVG, Anh. § 1 Rn 17 ff.; Langohr-Plato, Betriebliche Altersversorgung, Rn 245 ff.; Reinecke, BB 2004, 1625) um einen stillschweigend zustande gekommenen Vertrag bzw. eine Vertrauenshaftung.
Rz. 61
Als Anspruchsgrundlage ist die betriebliche Übung in § 1 Abs. 1 S. 4 BetrAVG ausdrücklich aufgeführt.
Rz. 62
Ein auf einer betrieblichen Übung begründeter Rechtsanspruch setzt eine regelmäßige Wiederholung gleichförmiger Verhaltensweisen im Betrieb voraus, die denjenigen, der sich gleichmäßig verhält, ggü. seinen Vertragspartnern rechtlich bindet (BAG v. 4.9.1985 – 7 AZR 262/83, DB 1986, 1627 = NZA 1986, 521; LAG Köln v. 17.1.1985 – 8 Sa 1019/84, Rev. nicht zugelassen, NZA 1985, 398 = BetrAV 1985, 68). Eine entsprechende betriebliche Übung hinsichtlich der Gewährung betrieblicher Versorgungsleistungen wird dann bejaht, wenn ein verständiger Arbeitnehmer nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte aus dem Verhalten des Arbeitgebers schließen durfte, dass er wie andere Arbeitnehmer des Betriebes ebenfalls betriebliche Versorgungsleistungen erhalten werde (BAG v. 29.10.1985 – 3 AZR 462/83, DB 1986, 2189 = NZA 1986, 786). Dies ist z.B. dann der Fall, wenn ein Arbeitgeber jahrelang ein 13. Ruhegehalt (Weihnachtsgeld) zahlt, das in der Versorgungsordnung nicht vorgesehen ist. Die Versorgungsberechtigten erwerben dann kraft betrieblicher Übung eine entsprechende Versorgungsanwartschaft, und zwar bereits vor Eintritt des Versorgungsfalles (BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 116/08 – juris), mit der Folge, dass sich der Arbeitgeber von dieser Verpflichtung nicht mehr einseitig lossagen kann (BAG v. 26.3.1997 – 10 AZR 612/96, AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 50 = EzA BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 38; BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 116/08, juris).
Rz. 63
Versorgungspflichten aus einer betrieblichen Übung kann der Arbeitgeber sowohl während des Arbeitsverhältnisses ggü. den Versorgungsanwärtern als auch nach Eintritt des Versorgungsfalles ggü. den Versorgungsempfängern eingehen (BAG v. 31.7.2007 – 3 AZR 189/06, AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 79), etwa dadurch, dass im Versorgungsfall an die ausgeschiedenen Arbeitnehmer Leistungen erbracht werden (vgl. BAG v. 12.12.2006 – 3 AZR 475/05, AiB 2008, 114). Begründet der Arbeitgeber durch die wiederholte Gewährung von Leistungen an Versorgungsempfänger eine betriebliche Übung, können die aktiven Arbeitnehmer, die unter Geltung dieser Übung im Betrieb arbeiteten, darauf vertrauen, dass die Übung nach Eintritt des Versorgungsfalles fortgeführt wird (vgl. BAG v. 12.12.2006 – 3 AZR 475/05, AiB 2008, 114; BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 116/08, juris).
Ein durch betriebliche Übung begründeter Anspruch auf Zahlung betrieblicher Altersversorgung kann nicht durch eine gegenläufige betriebliche Übung wieder beseitigt werden (BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 116/08, juris). Nach der früheren BAG-Rechtsprechung konnte eine betriebliche Übung im laufenden Arbeitsverhältnis grds. durch eine geänderte betriebliche Übung beendet werden (letztmalig BAG v. 28.5.2008 – 10 AZR 274/07, AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 80 = EzA BGB 2002 § 242 Betriebliche Übung Nr. 8). Dies galt allerdings nicht für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung.
Das Arbeitsverhältnis, für welches das BAG das Institut der gegenläufigen Übung entwickelt hat, ist durch den Austausch von Leistung und Gegenleistung geprägt. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die vertraglich geregelte Arbeitsleistung des Arbeitnehmers zu vergüten (§ 612 Abs. 1 BGB). Bei einem Rechtsverhältnis, das auf einem Geben und Nehmen beruht, mag der Gedanke, eine Partei werde einer Vertragsänderung, wenn sie sie verhindern wolle, widersprechen, nicht von vornherein von der Hand zu weisen sein. Anders ist dies bei einem Rechtsverhältnis wie dem Versorgungsverhältnis. Dieses wird durch die einseitige Leistungspflicht des Versorgungsschuldners geprägt. Den Versorgungsempfänger treffen keine primären Leistungspflichten. Die unterschiedliche Struktur der Rechtsbeziehung verbietet es, den Rechtsgedanken der gegenläufigen Übung auf das Betriebsrentenrecht zu übertragen.
Rz. 64
I.Ü. hat der 10. Senat des BAG seine bisherige Rechtsprechung in der Entscheidung vom 18.3.2009 (10 AZR 281/08, AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 83 = EzA BGB 2002 § 242 Betriebliche Übung Nr. 9) ausdrücklich aufgegeben.
Rz. 65
Ein durch betriebliche Übung begründeter Anspruch auf Zahlung betrieblicher Altersversorgung kann daher grds. nur – soweit ein ausdrücklicher Widerrufsvorbehalt fehlt – einvernehmlich, d.h. nur mit Zustimmung des Versorgungsberechtigten abgeändert oder beseitigt werden. Nach neuerer Rechtsprechung soll aber auch ...