Prof. Dr. Hans Josef Vogel
Rz. 196
Der typische Berührungspunkt in der Beratung von Mandanten ist die Fluggastrechte-VO. Daher beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen auf diesen Punkt. Im Rahmen der Fluggastrechte-VO sind wiederum in der Praxis des nicht spezialisierten Anwalts allein die finanziellen Ausgleichsansprüche bei sog. großen Verspätungen, bei Nichtbeförderung und bei Annullierung von Bedeutung; anwaltliche Hilfe bei der Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen i.S.d. Art. 9 Fluggastrechte-VO ist zwar denkbar, aber wenig relevant.
Rz. 197
Trotz der geringen Streitwerte sind die Klagen wegen Ausgleichsansprüchen in den Gerichtsständen der Fluggesellschaften eine der zahlenmäßig größten Gruppen. Die Vielzahl von Entscheidungen des EuGH und des BGH zu den Einzelfragen der Fluggastrechte-VO zeigen die hohe Komplexität der Materie und die mannigfaltigen Gestaltungen, die immer wieder Einzelfallentscheidungen erfordern. Das Spektrum reicht hier von zahlreichen Entscheidungen zur Frage, ob ein Vogelschlag ein unvermeidbares, außergewöhnliches Ereignis ist, über die Frage, wann ein Flugzeug angekommen ist (nunmehr entschieden: mit der Türöffnung, d.h. der Möglichkeit, das Flugzeug zu verlassen), bis zur Frage, ob einer an ein ausländisches Flugunternehmen zugestellten Klage in deutscher Sprache eine Übersetzung beizufügen ist. Es ist daher dringend geboten, die konkrete Fallgestaltung durch Recherche abzusichern. Die EU-Kommission hat Leitlinien zur Auslegung der Fluggastrechte-VO erstellt, die indes für die Gerichte nicht verbindlich sind. Hier können daher nur erste Hinweise gegeben werden für die regelmäßig auftretenden Situationen.
I. Typischer Sachverhalt
Rz. 198
Nachdem der EuGH entschieden hat, dass auch dem Fluggast, dessen Ankunft sich um mehr als drei Stunden verzögert, Ausgleichsansprüche nach Art. 7 Fluggastrechte-VO zustehen, besteht bei jeder derartigen Verspätung, ebenso bei Nichtbeförderung oder Annullierung, grundsätzlich die Möglichkeit von Ausgleichsansprüchen.
II. Fluggastrechte-VO: Überblick
Rz. 199
Die Fluggastrechte-VO legt innerhalb der EU Mindestrechte von Fluggästen fest, ohne dass dies aus dem nationalen Recht erwachsende weitere Ansprüche gegen die Fluggesellschaft ausschließt. Auch Ansprüche aus dem Pauschalreiserecht gegen den Reiseveranstalter einer Flugpauschalreise sind nicht durch die Fluggastrechte-VO ausgeschlossen; indes ist eine doppelte Inanspruchnahme ausgeschlossen, § 651p Abs. 3 S. 1 BGB, Art. 2 Abs. 1 Fluggastrechte-VO.
1. Anspruchsgegner
Rz. 200
Die Verordnung sieht nur Ansprüche gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen (Art. 2 lit. b Fluggastrechte-VO) vor. Ausführendes Luftfahrtunternehmen ist die Fluggesellschaft, die den Flugbeförderungsvertrag mit dem Fluggast geschlossen hat. Hierbei ist es gleichgültig, ob dies mit eigenen Maschinen oder anders beschafften Maschinen (Miete, Wet-Lease, Subcharter) geschieht. Anders ist es bei einem sog. Code-Share-Flug (eine Fluggesellschaft vertreibt Flüge, die durch eine andere Gesellschaft ausgeführt werden, wie etwa bei Star Alliance, wo Flüge z.B. von United durchgeführt werden, aber von Lufthansa unter einer eigenen Flugnummer bezeichnet werden); hier ist der tatsächlich den Flug Durchführende das vertragliche Luftfahrtunternehmen. Erkennbar ist das in der Regel durch den Zusatz "operated by …" Dies gilt auch, wenn die Bezeichnung als Code-Share unterblieb.
2. Anspruchsberechtigter
Rz. 201
Der Begriff "Fluggast" als derjenige, der nach Art. 1 Fluggastrechte-VO Nutznießer der Mindestrechte ist, ist in der Verordnung nicht definiert. Verstanden wird darunter die Person, die eine bestätigte Buchung (also einen Luftbeförderungsvertrag) abgeschlossen hat und durch Aushändigung/Erstellung einer Bordkarte als Fluggast angenommen ist. Hierzu zählen auch Fluggäste, die den Flug als Teil einer Pauschalreise wahrnehmen; das ausführende Luftfahrtunternehmen ist, auch wenn der Transport Gegenstand einer Reiseleistung aus dem Pauschalreisevertrag ist, insoweit Anspruchsgegner. Auch im Rahmen von Buchungen, die durch den Arbeitgeber oder ein Unternehmen für einen Mitarbeiter oder anderweitig für das Unternehmen getätigt werden, ist der Fluggast aktivlegitimiert, unabhängig davon, wer den Flug bezahlt hat. Aktivlegitimiert sind auch Fluggäste, die den Flug als Einlösung von Meilen, Punkten o.Ä. in Anspruch nehmen (Art. 3 Abs. 3 Fluggastrechte-VO), nicht aber kostenlos reisende Kleinkinder, auch wenn diese im Rahmen einer Pauschalreise eine 100 %ige Kinderermäßigung in Anspruch ne...