Rz. 263

Ist der Schaden kraft Gesetzes der Höhe nach begrenzt, der Schaden aber höher als die Höchsthaftungssumme und höher als die Sozialleistungen, ordnet Abs. 2 einen Vorrang des Geschädigten vor dem Sozialversicherungsträger an. Der Übergang auf den Sozialversicherungsträger erfolgt mithin nur insoweit, als der Anspruch nicht zum Ausgleich des Schadens des Verletzten erforderlich ist.

 

Rz. 264

§ 116 Abs. 2 SGB X erstreckt sich auf Fälle ab 1.7.1983. Zuvor (§ 1542 RVO a.F.) galt ein Befriedigungsvorrecht des Sozialversicherungsträgers.[346] Während nach der älteren höchstrichterlichen Rechtsprechung ein absolutes Quotenvorrecht des Sozialversicherungsträgers anzunehmen war,[347] liegt dem Abs. 2 der Norm die Erwägung zugrunde, den Schadensersatzanspruch bis zur Höhe seines Differenzschadens beim Geschädigten zu belassen. Der Sozialversicherungsträger darf mithin nur in Höhe des restlichen Teils regressieren.

 

Rz. 265

Schadenshöchstsummen ergeben sich aus den §§ 12 f. StVG, §§ 9 f. HPflG, § 37 Abs. 2 LuftVG, § 117 BBergG, § 31 AtomG, § 15 UmweltHG. § 116 Abs. 2 SGB X findet nur dann Anwendung, wenn ausschließlich aus den vorstehenden, Schadenshöchstsummen festlegenden Bestimmungen gehaftet wird. Keine Anwendung bei Anspruchskonkurrenz (z.B. §§ 7, 12 StVG und § 823 BGB), ebenso nicht, wenn der Haftpflichtversicherer nach § 4 PflVG nur auf eine Mindestversicherungssumme haftet. Die unbeschränkte Haftung des Schädigers bleibt hierdurch unberührt. Sofern die Durchsetzung der weitergehenden Ansprüche für den Verletzten mit Schwierigkeiten verbunden ist, kann er sich gegenüber dem nach § 116 Abs. 1 SGB X regressierenden Sozialversicherungsträger auf sein Befriedigungsvorrecht nach § 116 Abs. 4 SGB X berufen.

 

Rz. 266

§ 116 Abs. 2 SGB X setzt die volle Haftung (Verantwortlichkeit) des Schädigers voraus. Trifft den Verletzten ein Mitverschulden oder eine Mitverursachung (z.B. § 254 BGB, § 9 StVG), so ist Abs. 2 ebenfalls nicht anzuwenden. Vielmehr kommt es zur Anwendung von § 116 Abs. 3 S. 2 SGB X.[348]

 

Rz. 267

Die Anwendung des § 116 Abs. 2 SGB X setzt das Vorliegen einer gesetzlichen Höchstsummenbegrenzung voraus. Fälle der Leistungsfreiheit der Haftpflichtversicherer (z.B. wegen Obliegenheitsverletzung) erfasst die Vorschrift nicht. Bei vertraglicher Vereinbarung einer Haftungshöchstsumme spricht nichts gegen die analoge Anwendung der Vorschrift. Eine Analogie wird indessen ausscheiden, wenn die vertragliche Regelung nur deshalb getroffen wurde, um den Regress des Sozialversicherungsträgers zu beschränken.

 

Rz. 268

Nach § 116 Abs. 2 SGB X sind die gesamten Ansprüche des Verletzten vorweg zu befriedigen. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass der Schaden des Verletzten nicht bereits durch die Sozialleistungen abgedeckt ist. Es findet keine Aufteilung der Haftungssumme in kongruente Schadensgruppen statt, wie vereinzelt vertreten wurde.[349] Dem Grundsatz "Kongruenz vor Quotenvorrecht" ist mithin nicht beizutreten. Dem Gesetzgeber ging es, wie auch die § 116 Abs. 3 und Abs. 4 SGB X belegen, in erster Linie um einen umfassenden Schutz des Verletzten. Nichts anderes kann der Gesetzgeber – im Übrigen auch ausweislich des Gesetzeswortlauts – mit § 116 Abs. 2 SGB X gewollt haben. Es sind demnach alle Ansprüche des Verletzten vorrangig zu befriedigen. Erstreckt sich die Höchstsummenbegrenzung jedoch nur auf eine Schadensgruppe (z.B. Erwerbsschaden), kommt das Befriedigungsvorrecht nur hier zum Tragen. Nunmehr hat der Bundesgerichtshof in einer grundlegenden Entscheidung klargestellt, dass Schaden im Sinne des § 116 Abs. 2 SGB X der gesamte Schaden des Geschädigten ist.[350] Die genannten Entscheidungen enthalten auch grundlegende Ausführungen zur Berechnung.

 

Rz. 269

Rechenbeispiel zu Abs. 2:

 
Erwerbsschaden jährlich 20.000 EUR
StVG-Höchstgrenze (§§ 12, 13) 15.000 EUR
Sozialversicherungsträger-Rentenleistungen jährlich 10.000 EUR
Geschädigter  
Schaden – 10.000 EUR
Sozialversicherungsträger-Leistungen + 10.000 EUR
Vom Höchstbetrag + 10.000 EUR
Geschädigter erhält 20.000 EUR
Ausfall 0 EUR
Sozialversicherungsträger  
Sozialversicherungsträger-Leistungen – 10.000 EUR
Restbetrag aus Höchsthaftung + 5.000 EUR
Ausfall für Sozialversicherungsträger 5.000 EUR
[346] BGH, Urt. v. 13.7.1972 – III ZR 150/69, VersR 1972, 1020; OLG Saarbrücken VersR 1976, 185.
[347] Vgl. RGZ 148, 19.
[348] BGH, Urt. v. 21.11.2000 – VI ZR 120/99, BGHZ 146, 84 = VersR 2001, 387 = MDR 2001, 328 = NJW 2001, 1214 = HVBG-INFO 2001, 488 m.w.N.
[349] Küppersbusch, VersR 1983, 202; Deinhard, VersR 1984, 700; Denk, VersR 1987, 629.
[350] Vgl. BGH, Urt. v. 8.4.1997 – VI ZR 112/96, BGHZ 135, 170 = VersR 1997, 901 = MDR 1997, 637 = NJW 1997, 1785; BGH, Urt. v. 21.11.2000 – VI ZR 120/99, BGHZ 146, 84 = MDR 2001, 328–329 = VersR 2001, 387 = NJW 2001, 1214; st. Rspr.; vgl. auch Gitter, JZ 2001, 716 (Anm.).

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?