Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 291
Ist der ersatzpflichtige Schädiger aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage, die Schadensersatzansprüche voll auszugleichen, so wird dem Geschädigten vor dem Sozialversicherungsträger ein Befriedigungsvorrecht eingeräumt (§ 116 Abs. 4 SGB X). Die Vorschrift geht auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 1542 RVO a.F. zurück, wonach das Befriedigungsvorrecht das Rangverhältnis gegenüber dem Sozialversicherungsträger bestimmt, und zwar auch im Verteilungs- und Kürzungsverfahren bei unzureichender Deckungssumme (§ 156 Abs. 3 VVG).
Rz. 292
Die tatsächlichen Hindernisse, die der Durchsetzung der Schadensersatzansprüche im Wege stehen, müssen wirtschaftlicher Art sein, etwa wenn der Schädiger ohne Versicherungsschutz nicht in der Lage ist, den Schaden gegenüber dem Geschädigten und dem Sozialversicherungsträger in vollem Umfang auszugleichen oder wenn die vereinbarte Versicherungssumme (Deckungssumme) zur Schadensdeckung nicht ausreicht. Kein Hindernis wirtschaftlicher Art liegt dagegen vor, wenn der Schädiger oder seine Haftpflichtversicherung aus Rechtsgründen zur Zahlung nicht bereit sind.
Rz. 293
Das Befriedigungsvorrecht erfasst nicht nur die vom Forderungsübergang betroffenen kongruenten Schadensersatzansprüche, sondern es erstreckt sich auch auf alle anderen Ersatzansprüche einschließlich des Schmerzensgeldes. Die Schadensersatzansprüche des Verletzten sind zunächst der Höhe nach festzustellen und den übergegangenen Ansprüchen des Sozialversicherungsträgers gegenüberzustellen. Bei Mithaftungsfällen muss nach § 116 Abs. 3 SGB X gekürzt werden. Bei voller Haftung mit gesetzlicher Haftungsbegrenzung (z.B. § 12 StVG, § 9 HPflG) ist § 116 Abs. 2 SGB X zu beachten. Ist der Schädiger nicht in der Lage, die Schadensersatzansprüche des Verletzten und des Sozialversicherungsträgers zu befriedigen, so genießt der Verletzte absoluten Vorrang.
Rz. 294
Hat der Sozialversicherungsträger ohne Beachtung des Befriedigungsvorrechts den übergegangenen Ersatzanspruch realisiert, so ist er zur Herausgabe an den Verletzten verpflichtet.
Rz. 295
Das Befriedigungsvorrecht ist vom Gericht zu beachten, wenn es sich bereits im Prozess ergibt, dass der Schädiger den Anspruch des Verletzten nicht erfüllen kann. Beruft sich der Geschädigte im Haftpflichtprozess gegenüber dem Vortrag des Haftpflichtversicherers, die Versicherungssumme reiche zur Befriedigung der mehreren Betroffenen nicht aus, auf sein Befriedigungsvorrecht aus § 116 Abs. 4 SGB X, so führt dies nicht dazu, dass die Verteilung der Versicherungssumme generell unterbleibt. Vielmehr findet zunächst im Rahmen des Verteilungsverfahrens die anteilige Kürzung aller Forderungen statt, sodann erhält der Geschädigte einen Anteil von den Ansprüchen seiner Rechtsnachfolger in der Höhe, wie sie erforderlich ist, um seinen Ausfall infolge der Kürzung auszugleichen.
Rz. 296
Der Verletzte kann sein Vorrecht in der Vollstreckung geltend machen (z.B. im Verteilungsverfahren nach den §§ 872 ff. ZPO, bei Widerspruchsklage nach § 878 ZPO, bei Zwangsversteigerung eines Grundstücks gem. § 115 ZVG). Auch ein Rechtsstreit (Feststellungsklage) zwischen dem Verletzten und dem Sozialversicherungsträger ist möglich, wenn Streit über das Vorliegen des Befriedigungsvorrechts herrscht.