Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 7
Bei den Entscheidungen, die die Gerichte binden, handelt es sich in der Regel um die Bescheide der Versicherungsträger (z.B. der BG oder einer Krankenkasse) und um gerichtliche Entscheidungen (verwaltungs- und sozialgerichtliche Urteile, verfahrensbeendigende Beschlüsse, z.B. Gerichtsbescheide), aber auch um im sozialgerichtlichen Verfahren erzielte Anerkenntnisse und Vergleiche, soweit diese zur Erledigung des Anspruchs führen (vgl. § 101 SGG). Hinzuweisen bleibt aber auch auf die Möglichkeit der Begründung von Rechten aus öffentlich-rechtlichem Vertrag.
Rz. 8
Während in den §§ 638, 639 RVO a.F. noch von einer "endgültigen" Entscheidung die Rede war, ist die Wortwahl in den §§ 108, 109 SGB VII und § 118 SGB X nunmehr einheitlich: Notwendig ist danach eine unanfechtbare Entscheidung. Sie muss mithin entweder Bestandskraft erlangt haben (Bescheid: § 77 SGG) oder rechtskräftig sein (Urteile: § 141 SGG; Vergleich und Anerkenntnis: § 101 SGG).
Rz. 9
Die Bindungswirkung der Entscheidung wirkt indessen allein zwischen den Beteiligten. Selbst wenn die Entscheidung unanfechtbar geworden ist, erstreckt sich ihre Bindungswirkung, sei es durch Bestandskraft, sei es durch Urteil, folglich ausschließlich gegenüber dem Adressaten, etwa gegenüber dem Verletzten. Eine ganz andere Frage ist aber, ob z.B. die Bestandskraft des Bescheids auch gegenüber Dritten, die am Verwaltungsverfahren beteiligt sind oder hätten beteiligt werden müssen, eingetreten ist. § 12 Abs. 2 SGB X normiert einerseits (S. 1) die Möglichkeit der Hinzuziehung von Personen im Verwaltungsverfahren auf Antrag oder von Amts wegen, wenn rechtliche Interessen eines Betroffenen durch den Ausgang des Verfahrens berührt werden können. S. 2 erlegt die Verpflichtung zur Beteiligung auf, falls der Verfahrensausgang dem Dritten gegenüber rechtsgestaltende Wirkung nach sich zieht und er einen Beteiligungsantrag stellt. Ein solcher Fall liegt etwa vor, wenn ein Unternehmer sich bei einer späteren zivilrechtlichen Inanspruchnahme auf das Haftungsprivileg nach 104 SGB VII berufen will. Für die Anwendung des § 12 Abs. 2 SGB X genügt es, dass der Bescheid seine Rechtsstellung berührt oder berühren kann.
Rz. 10
Rechte der genannten Dritten dürfen durch die Bindungswirkung nicht verkürzt werden. Sie sind auf ihren Antrag zu dem Verfahren hinzuzuziehen.
Rz. 11
Ist eine Beteiligung in gebotener Weise nicht erfolgt, so ist das Verwaltungsverfahren mit einem Fehler behaftet, der zur Folge hat, dass die Verwaltungsentscheidung gegenüber dem Dritten nicht bindend ist. Bindung ihm gegenüber tritt erst ein, wenn er auf Anfrage erklärt, kein Interesse an einer Wiederholung des Verwaltungsverfahrens zu haben, oder keine Erklärung abgibt. Andernfalls ist das Verwaltungsverfahren auf Antrag zu wiederholen. In diesem Fall hätte das angerufene Gericht das anhängige Verfahren bis zur bestandskräftigen Entscheidung der Sozialversicherungsbehörde gegenüber dem nach § 12 Abs. 2 SGB X Beteiligten auszusetzen.
Rz. 12
Zum Problemkreis, auch zur Verwirkung des Rechts auf Wiederholung des Verwaltungsverfahrens. Die Bindung ist von Amts wegen zu berücksichtigen, und zwar auch in der Revisionsinstanz, selbst dann, wenn die Entscheidung erst nach Einlegung der Revision ergangen ist. Allerdings bleibt darauf hinzuweisen, dass eine Aussetzung wegen unterlassener Beteiligung des Schädigers am Verwaltungsverfahren ausnahmsweise entbehrlich ist, wenn sie eine bloße Förmelei wäre.
Rz. 13
Falls eine Entscheidung der Versicherungsträger nicht zu erwarten ist, es z.B. nicht zu einem Verwaltungshandeln gekommen ist oder seitens der Betroffenen keine Anträge gestellt sind, ist das Zivilgericht in der Beurteilung des Falles frei. Insbesondere braucht es nicht von sich aus in jedem Fall den Versicherungsträger zu einer Klärung darüber aufzufordern, ob mit einem Bescheid zu rechnen ist oder nicht.
Rz. 14
Wenn aber – im umgekehrten Fall – nach der zivilgerichtlichen Entscheidung dennoch ein Sozialversicherungsträger mit dem Fall befasst wird, sind weder er noch gegebenenfalls nachfolgend das Sozialgericht an die zivilgerichtliche Entscheidung über die von der jeweiligen Bindung (z.B. § 108 SGB VII) erfassten Einzelpunkte gebunden.
Rz. 15
Wie eingangs (Rdn 4) dargelegt, sind "Entscheidungen" der Verwaltungen in erster Linie Verwaltungsakte. Indessen bleibt darauf hinzuweisen, dass sowohl in der Krankenversicherung als auch der sozialen Pflegeversicherung bei der Bewilligung von Leistungen oft keine formellen Bescheide erteilt werden. Leistungsmitteilungen werden den Adressaten hier oftmals in Form eines bloßen Anschreibens bekannt gegeben. Die Bewilligung von Leistungen durch formlose Mitteilung genügt indessen den Erfordernissen des § 108 SGB VII.
Rz. 16
Die Bindung erstreckt sich auch auf den Rückgriffsprozess aus § 110 SGB VII (108 SGB VII) und aus § 116 SGB X (§ 118 SGB X). Gleichgültig ist es, ob der Bescheid eine Leistung des Sozialversicherungsträgers ausspricht oder negativ das Bestehen ...