Rz. 95
So trivial es auch sein mag, nicht zu selten wird die Drei-Wochen-Frist des Kündigungsschutzgesetzes nicht gewahrt, weil der sachbearbeitende Anwalt diese Frist falsch berechnet. Es ist äußerst haftungsträchtig, sich auf Angaben des Mandanten zum Zugang der Kündigungserklärung zu verlassen. Die wenigsten Mandanten können beurteilen, wann ein Kündigungsschreiben rechtlich zugeht, man denke an Urlaubs-/Krankheitssachverhalte etc. Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht reicht es bei einem Arbeitnehmer, der sich im Erholungsurlaub befindet, dass die Kündigung in den Briefkasten gelangt. Wird das Kündigungsschreiben einer Person übergeben, die mit dem Arbeitnehmer in einer Wohnung lebt und die aufgrund ihrer Reife und Fähigkeiten geeignet erscheint, das Schreiben an den Arbeitnehmer weiterzuleiten, ist diese nach der Verkehrsanschauung als Empfangsbote des Arbeitnehmers anzusehen. Bei Ehegatten ist dies grundsätzlich der Fall. Die Kündigungserklärung des Arbeitgebers geht dem Arbeitnehmer jedoch nicht bereits mit der Übermittlung an den Empfangsboten zu, sondern erst dann, wenn mit der Weitergabe der Erklärung unter gewöhnlichen Verhältnissen zu rechnen ist. Wann also eine Kündigung rechtlich zugegangen ist, hängt sehr stark vom Einzelfall ab und bedarf einer sorgfältigen Prüfung der jeweiligen Umstände.
Rz. 96
Nicht ganz so offensichtlich, aber mindestens ebenso häufig sind Haftungsfälle wegen des Übersehens von Ausschlussfristen. Sind Ausschlussfristen vereinbart, so geht ein bestehendes Recht unter, wenn es nicht innerhalb der Frist geltend gemacht wird. Derartige Fristen finden sich in Arbeitsverträgen, aber auch in Betriebsvereinbarungen und weitaus häufiger in Tarifverträgen. Eine Haftungsfalle stellen insbesondere allgemeinverbindliche Tarifverträge dar; unter Umständen ist dem Mandanten zumindest aktiv nicht bekannt, dass eine solche Ausschlussfrist Anwendung findet. Ausschlussfristen sind vor Gericht von Amts wegen zu beachten. Bei einstufigen Verfallfristen, die formlose oder schriftliche Geltendmachung vorsehen, wahrt die Kündigungsschutzklage Ansprüche, die vom Bestand und Ergebnis des Kündigungsschutzrechtstreits abhängen. Die Kündigungsschutzklage reicht jedoch nicht aus, wenn Zahlungsansprüche in einer zweiten Stufe gerichtlich geltend gemacht werden müssen, und der Arbeitgeber den Anspruch ablehnt oder sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Anspruch nicht erklärt. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beginnt die zweite Stufe einer solchen Ausschlussfrist mit der Erklärung des Arbeitgebers, er beantrage Klageabweisung, zu laufen. Einer unmittelbar auf die Ansprüche selbst bezogenen ausdrücklichen Ablehnungserklärung des Arbeitgebers bedarf es dann nicht.
Rz. 97
Praxishinweis
In der Praxis werden Ausschlussfristen immer wieder übersehen. Drohen demnach Zahlungsansprüche, die vom Bestand des Arbeitsverhältnisses abhängen, tatsächlich verfallen zu sein, so kann bei zweistufigen Ausschlussfristen der Versuch unternommen werden, die Ausschlussfrist über § 307 BGB zu Fall zu bringen. Dies gilt insbesondere, sofern Ansprüche betreffend den gesetzlichen Mindestlohn oder aus vorsätzlicher Vertragsverletzung bzw. unerlaubter Handlung nicht explizit vom Geltungsbereich der Ausschlussklausel ausgenommen sind. Ferner kann der Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns nicht wirksam einer Ausschlussfrist unterworfen werden. Hilft dies nicht weiter, so ist zu prüfen, ob man möglicherweise über die Anwendung eines Tarifvertrages zu einem anderen Ergebnis gelangen kann, insbesondere ist zu prüfen, ob nicht ein allgemein verbindlicher Tarifvertrag Anwendung findet. Dies soll mit folgendem Beispiel illustriert werden:
Rz. 98
Beispiel
Ein Softwareunternehmen kündigt eine Arbeitnehmerin wegen angeblichem Spesenbetrug. Der Anwalt der Arbeitnehmerin erhebt Kündigungsschutzklage. Auflaufende Annahmeverzugslohnansprüche klagt er nicht ein, da er die einzelvertraglich vereinbarte zweistufige Ausschlussfrist übersieht. Die I. Instanz geht verloren, in II. Instanz wird die Kündigungsschutzklage gewonnen. Als die Klägerin dann die Annahmeverzugslohnansprüche geltend macht, beruft sich die Beklagte auf die vertragliche Ausschlussfrist. Die Klägerin wechselt daraufhin den Anwalt. Dieser versucht zunächst, die Arbeitgeberin unter Druck zu setzen. Er erläutert der Klägerin, dass, wenn dies nicht gelingt, aller Voraussicht nach ein Regressanspruch gegen den Voranwalt besteht. Der Zweitanwalt erhebt Zahlungsklage im Hinblick auf die gesamten Annahmeverzugslohnansprüche. Die Arbeitgeberin beruft sich auch im Verfahren auf die einzelvertragliche Ausschlussfrist. Der Anwalt der Arbeitnehmerin argumentiert damit, dass die einzelvertragliche Ausschlussfrist nicht deckungsgleich mit der einstufigen Ausschlussfrist des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages für den Groß- und Außenhandel in Hessen ist und damit gegen das Günstigkeitsprinzip ...