Prof. Dr. Günther Schneider
I. Allgemeine Grundlagen
Rz. 153
Das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 SGB VII setzt tatbestandlich – in seiner Bedeutung als wohl herausragendstes Merkmal – das Vorliegen eines Versicherungsfalls voraus. Damit stellt der Gesetzeswortlaut unmissverständlich auf die in § 7 SGB VII normierten Versicherungsfälle ab, zu denen einerseits Arbeitsunfälle, andererseits Berufskrankheiten zählen.
Rz. 154
Der Arbeitsunfall wird herkömmlich definiert als ein Unfall, den ein Versicherter während einer versicherten Tätigkeit erleidet, und der zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt (siehe im Einzelnen Rdn 157 ff.). Diesem Arbeitsunfall im engeren Sinne (Unfall bei betrieblicher Tätigkeit) sind im Wege der Fiktion Unfälle im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB VII, namentlich Wegeunfälle und Unfälle, die sich im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit bei der Verwahrung, Beförderung, Instandhaltung und Erneuerung des Arbeitsgerätes ereignen.
Zur Erstreckung des Versicherungsschutzes in der See- und der Binnenschifffahrt, zu den mittelbaren Folgen eines Versicherungsfalls und zum Versicherungsfall einer Leibesfrucht vgl. die §§ 10 bis 12 SGB VII.
Zur Berufskrankheit vgl. § 9 SGB VII, zum Wegeunfall § 8 Abs. 2 SGB VII.
Rz. 155
§ 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII knüpft tatbestandlich an das Vorliegen eines Unfalls, an die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit und, wie der Wortlaut "infolge" belegt, an das Bestehen eines Ursachenzusammenhangs zwischen Unfall und versicherter Tätigkeit an. Mit dieser gegenüber den §§ 548, 550 RVO a.F. zwar systematisch geänderten, inhaltlich aber im Wesentlichen unveränderten tatbestandlichen Struktur ist Rahmen des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung nach dem SGB VII keine inhaltliche Änderung gegenüber den genannten Vorgängerregelungen nach der RVO verbunden.
Rz. 156
Diese in § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII normierten Tatbestandsvoraussetzungen umschreiben den Rechtsgrund, aufgrund dessen der wegen einer Verrichtung einer versicherten Tätigkeit durch den Verletzten verbandszuständige Unfallversicherungsträger überhaupt versicherungsrechtlich für die Schäden, Nachteile und Bedarfe des verunfallten Verletzten einstehen soll“. Der Unfallversicherungsträger soll nur einstehen müssen für Schäden, die "infolge" der versicherten Verrichtung eingetreten sind und ein Risiko realisieren, gegen das die jeweils begründete Versicherung schützen soll. Zurechnungsvoraussetzungen sind somit auf der ersten Stufe die (faktisch-objektive) Wirkursächlichkeit der versicherten Verrichtung des Verletzten für den Schaden und auf der darauf aufbauenden zweiten Stufe dessen rechtliche Erfassung vom jeweiligen Schutzzweck der begründeten Versicherung.
Rz. 157
Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII). Anders ausgedrückt: Es geht um ein von außen wirkendes, körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis. Dies entspricht der von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entwickelten Definition, der die Aufgabe der normativen Konkretisierung zukam, weil der Unfallbegriff unter der Geltung der RVO nicht definiert war. Nach der innerhalb des § 8 SGB VII damit enthaltenen Definition besteht Identität mit dem Unfallbegriff nach den einschlägigen beamtenrechtlichen Bestimmungen (vgl. § 40 Rdn 1).
Rz. 158
Das Ereignis muss von außen auf den Menschen einwirken, womit ausgedrückt werden soll, dass ein aus einer inneren Ursache kommendes Geschehen nicht als Unfall anzusehen ist, wie etwa bei der bloßen Ohnmacht. Ein Unfall liegt in diesem Fall aber gleichwohl vor, wenn das Ereignis eine zusätzliche Schädigung zur Folge hat, wie dies etwa bei einer Bruchverletzung nach Sturz in Ohnmacht der Fall ist (Unfall aus innerer Ursache). Geht das Ereignis auf verbotswidriges oder nicht betriebsübliches Verhalten zurück, schließt dies die Annahme des Arbeitsunfalls nicht aus.
Schließlich muss das Ereignis unfreiwillig eingetreten sein. Selbsttötung ist z.B. kein Arbeitsunfall.
Rz. 159
Der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Unfallbegriff liegt eine Jahrzehnte alte einheitliche Spruchpraxis zugrunde. Unfall ein körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis. Zum Merkmal der Einwirkung auf den Menschen "von außen" ist entschieden, damit solle lediglich ausgedrückt werden, dass ein aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis nicht als Unfall anzusehen ist. Wesentlich für den Begriff des Unfalls sind demnach ein ("äußeres") Ereignis als Ursache und eine Körperschädigung als Wirkung. Die Körperschädigung kann verursacht sein durch körperlich gegenständliche Einwirkungen (z.B. Verletzung beim Aufschlag nach Sturz), aber auch durch geistig-seelische Einwirkungen in einem eng begrenzten Zeitraum.