Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 179
Nach dem Zweck des unter Geltung der RVO gegebenen Ausnahmetatbestands "Teilnahme am allgemeinen Verkehr" sollten Haftungsbefreiungen, welche die §§ 636, 637 RVO a.F. an das betriebsbezogene Verhältnis zwischen dem versicherten Verletzten und dem Schädiger knüpften, für den Bereich entfallen, in dem der Versicherte jedem anderen Verkehrsteilnehmer gleichstand.
Rz. 180
Dies beruhte auf folgenden Erwägungen: Es wäre unbillig, den Geschädigten insoweit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern durch eine Beschränkung seiner Ansprüche zu benachteiligen. Die Regelung sollte daher diejenigen Sachverhalte erfassen, in denen der Versicherte den Gefahrenbereich, in dem er durch die Zugehörigkeit zu seinem Betrieb betroffen ist, verließ und sich als normaler Verkehrsteilnehmer in den Gefahrenbereich des allgemeinen Verkehrs begab. Deshalb war bereits nach der früheren Rechtslage nicht allein maßgebend, wo sich der Unfall ereignet hatte; maßgebend war gerade auch, inwieweit er mit dem Betrieb und der Berufstätigkeit des Versicherten zusammenhing. Entscheidend kam es daher darauf an, ob sich in dem Unfall das betriebliche Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem manifestiert oder ob dieses Verhältnis zum Unfall keinen oder nur einen äußeren Zusammenhang hatte.
Rz. 181
Bereits nach der früheren Rechtslage (§§ 636, 637 RVO a.F.) führte die Rechtsprechung dazu, dass in Anwendung des Merkmals "Teilnahme am allgemeinen Verkehr", das im Gegensatz zum innerbetrieblichen Verkehr stand, und zwar auch dann, soweit es um Geschehensabläufe auf öffentlichen Straßen ging, solche Sachverhalte aus dem Haftungsprivileg fielen, bei denen der Versicherte zwar z.B. in Folge eines Wegeunfalls (§ 8 Abs. 2 SGB VII; § 550 RVO a.F.) Unfallversicherungsschutz genoss, aber noch nicht in betriebliche Abläufen eingebunden war. In diesen Fällen ist für die Anwendung des Haftungsprivilegs ersichtlich kein Anwendungsraum, weil die dargelegten Erwägungen Rdn 180 für die Verankerung des Haftungsprivilegs insoweit noch nicht eingreifen.
Rz. 182
Deshalb führte die frühere, zu § 636 RVO a.F. hinsichtlich des Merkmals Teilnahme am allgemeinen Verkehr dazu, dass der Versicherungsfall des "WegeunfaIIs" noch nicht als "Teilnahme am allgemeinen Verkehr" anzusehen war, die Geschädigten sich mithin gegenüber ihrem Arbeitgeber, aber auch gegenüber Kollegen auf die allgemeinen Haftungsvorschriften unter Einschluss des Anspruchs auf Schmerzensgeld berufen konnten.
Rz. 183
Der Gesetzgeber hat in der Neufassung des Haftungsprivilegs diese höchstrichterlich geprägten Erwägungen (zu den Nachweisen vgl. die nachfolgenden Rdn) aufgegriffen und sie der Vorschrift des § 104 Abs. 1 S. 1 SGB VII zugrunde gelegt. Sie finden, obgleich zu §§ 636, 637 RVO a.F. ergangen, gerade auch im Rahmen der in § 104 SGB VII getroffenen Neuregelung uneingeschränkt Anwendung. Anders ausgedrückt: Für die Abgrenzung, ob der Versicherungsfall auf einem Betriebsweg (§ 8 Abs. 1 SGB VII; Sperrwirkung) oder einem von der Haftungsbeschränkung ausgenommenen versicherten Weg (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII, Entsperrung) eingetreten ist, sind die Kriterien heranzuziehen, die von der Rechtsprechung für das frühere Abgrenzungsmerkmal des § 637 RVO zwischen privilegierten und nicht privilegierten Wegen – nämlich die Teilnahme am allgemeinen Verkehr – entwickelt worden sind.
Rz. 184
Im Ausgangspunkt sind die von Unternehmern verursachten Schädigungen, die sich aus der Sicht des Geschädigten als Wegeunfall im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB VII darstellen, von der Haftungsbeschränkung ausgenommen, sodass die Sperrwirkung hier von Vornherein nicht greift.
Rz. 185
Ob seitens des beim Unfall Verletzten ein Wegeunfall anzunehmen ist (= frühere "Teilnahme am allgemeinen Verkehr") und deshalb das Haftungsprivileg entfällt (Entsperrung), hängt entscheidend davon ab, ob sich in dem Unfall das betriebliche Verhältnis zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten manifestiert oder ob insoweit zur dienstlichen bzw. betrieblichen Beziehung zwischen beiden kein oder nur ein loser Zusammenhang bestanden hat. Es geht um ein Abgrenzungsproblem: Es ist zu prüfen, ob nach der ratio legis der §§ 104 ff. SGB VII eine Haftungseinschränkung geboten ist, weil sich aufgrund der bestehenden betrieblichen Gefahrengemeinschaft ein betriebsbezogenes Haftungsrisiko verwirklicht hat, von dem der Unternehmer auch hinsichtlich eventueller Freistellungs- und Erstattungsansprüche grundsätzlich befreit werden soll. Maßgebend ist dabei das Verhältnis des Geschädigten zu dem in Anspruch genommenen Schädiger.
Entscheidend ist folglich, ob der Verletzte den Unfall als Betriebsangehöriger erlitten hat. Es kommt also darauf an, ob sich der Unfall im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem als innerdienstlicher bzw. innerbetrieblicher Vorgang darstellt. Ist dies nicht der Fall, so greift der Haftungsausschluss nicht ein.
Rz. 186
Daher ist – und dies kennzeichnet einen in der Praxis oft vorkommenden Fallgestaltungen – auch die Mitn...