Prof. Dr. Günther Schneider
I. Allgemeines
Rz. 228
§ 106 SGB VII erstreckt das Haftungsprivileg auf weitere Personengruppen. Nach seinem Abs. 1 gelten die §§ 104, 105 SGB VII für die nach § 2 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 8 SGB VII versicherten Personen. Dies sind Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung in näher bezeichneten Betriebsstätten und Einrichtungen, Personen, die sich Untersuchungen, Prüfungen oder ähnlichen Maßnahmen zur Aufnahme oder infolge einer abgeschlossenen versicherten Tätigkeit unterziehen, Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen, Schüler und Studierende.
Rz. 229
Diese Normadressaten haften weder untereinander noch gegenüber den Betriebsangehörigen desselben Unternehmens. Ebenso haften sie selbst nicht gegenüber den Betriebsangehörigen desselben Unternehmens.
Rz. 230
In gleicher Weise bestimmt § 106 Abs. 2 SGB VII, dass das Haftungsprivileg auch auf die in § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII (Pflegepersonen bei der Pflege von Pflegebedürftigen; §§ 14, 19 SGB XI) versicherten Personengruppen anzuwenden ist. Auch hier haften als Normadressaten die Pflegepersonen und die Pflegebedürftigen weder untereinander noch haften die Pflegepersonen desselben Pflegebedürftigen untereinander.
II. Gemeinsame Betriebsstätte
Rz. 231
Nach § 106 Abs. 3 SGB VII kommt es zur Haftungsbeschränkung, wenn Versicherte verschiedener Unternehmen auf einer gemeinsamen Betriebsstätte tätig werden. "Gemeinsame Betriebsstätte" verlangt eine Unterhaltung in gemeinsamer Organisation und Verantwortung oder wenigstens eine wenn auch lose Verbindung der einzelnen Arbeiten miteinander. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Betriebsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Tätigkeit der Mitwirkenden muss im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet sein.
Rz. 232
Allerdings keine Haftungsbeschränkung, wenn mehrere Unternehmen lediglich zufällig gleichzeitig an einer Betriebsstätte Arbeiten ausführen, wie dies namentlich bei den verschiedenen Gewerken auf einem Bau üblich ist:
Zitat
"Eine “gemeinsame’ Betriebsstätte ist nach allgemeinem Verständnis mehr als “dieselbe’ Betriebsstätte; das bloße Zusammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen erfüllt den Tatbestand der Norm nicht. Parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebeneinander vollziehen, genügen ebenso wenig wie eine bloße Arbeitsberührung. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation, die eine Bewertung als “gemeinsame’ Betriebsstätte rechtfertigt".
III. Weitere Fragestellungen
Rz. 233
Abs. 4 erstreckt das Haftungsprivileg auf Betriebsangehörige gegenüber den nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII kraft Satzung versicherten Personen, die sich an der Unternehmensstätte aufhalten.
Rz. 234
Soweit § 106 SGB VII auf die Geltung der §§ 104, 105 SGB VII verweist, ist der Begriff der betrieblichen Tätigkeit für Lernende oder Schüler die gegenüber der Arbeitswelt verschiedene "betriebliche" Situation in der Schule und den Zweck der Einbeziehung von Schulunfällen in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung zu berücksichtigen. Bei der Verletzung eines Schülers durch einen Mitschüler ist für die Befreiung von der Haftung darauf abzustellen, ob die Verletzungshandlung schulbezogen in dem Sinne war, dass sie auf der typischen Gefährdung aus engem schulischen Kontakt beruht und deshalb einen inneren Bezug zum Besuch der Schule aufweist. Eine nur "bei Gelegenheit" des Schulbesuchs erfolgte Verletzung hat keine Schulbezogenheit.
Rz. 235
§ 106 SGB VII ist tatbestandlich nicht auf den Betrieb begrenzt, sondern erstreckt sich auf die gleichen "Unternehmen" sein. Die Haftungsbeschränkung erfasst deshalb alle Personen, deren Lernen sich in einer räumlichen Einheit vollzieht, auch wenn z.B. verschiedene Berufsschulen unterschiedlicher Träger in einem Gebäude untergebracht sind.
Rz. 236
Die Haftungsprivilegierung im Sinne des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII kommt auch dem versicherten Unternehmer zu Gute, der selbst eine vorübergehende betriebliche Tätigkeit verrichtet und dabei den Versicherten eines anderen Unternehmens verletzt. Sie gilt indessen nicht zugunsten eines n...