Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 244
Der Haftungsausschluss hat Auswirkungen nicht nur für und gegen die in den §§ 104, 105 SGB VII genannten Personen. Er kann auch Auswirkungen haben auf die Haftung Dritter, die am Sozialversicherungsverhältnis nicht beteiligt sind. In Literatur und Praxis werden diese Fallgestaltungen unter dem Begriff des von der Rechtsprechung entwickelten "gestörten Gesamtschuldverhältnisses" erörtert.
Rz. 245
Anlass waren Kraftfahrzeugunfälle mit folgendem Hergang: Der Unternehmer oder der Betriebsangehörige befinden sich auf einer Betriebsfahrt und werden hierbei von einem Arbeitnehmer oder einem Arbeitskollegen (z.B. Beifahrer) begleitet. Unterwegs kommt es zu einem Verkehrsunfall, bei dem der mitfahrende Versicherte (Arbeitnehmer bzw. Beifahrer) verletzt wird. Der Unfall wurde durch Fahrlässigkeit vom Unternehmer bzw. Betriebsangehörigen als Fahrer und einem Zweitschädiger verschuldet. Sie haften z.B. zu gleichen Teilen (50:50).
Rz. 246
Nach dem Wortlaut des § 104 SGB VII gilt der Haftungsausschluss nur im Verhältnis zwischen Unternehmer und Versichertem bzw. den in § 105 SGB VII genannten Personen. Er gilt dagegen nicht im Verhältnis zwischen Zweitschädiger und Versicherten und auch nicht im Verhältnis zwischen Zweitschädiger und Unternehmer bzw. Arbeitskollegen (Mitschädiger).
Rz. 247
Der vorstehende Beispielfall wäre demnach wie folgt zu lösen: Der Unternehmer bzw. der Betriebsangehörige kann durch den verletzten Versicherten nicht in Anspruch genommen werden (§ 104 bzw. § 105 SGB VII). Der Versicherte, der wegen des Unfalls als Mitfahrer nicht in eine Haftung miteinbezogen werden kann, hätte daher einen vollen Anspruch gegen den Zweitschädiger (§ 421 BGB). Dieser wiederum könnte den mitbeteiligten Unternehmer bzw. Betriebsangehörigen in Höhe der von ihm nicht zu vertretenden Haftung nach Maßgabe des § 426 BGB gesamtschuldnerisch zum Ausgleich heranziehen.
Rz. 248
Unternehmer bzw. Betriebsangehöriger wären daher über den gesamtschuldnerischen Ausgleichsanspruch des Schädigers trotz der vom Gesetzgeber gewollten Haftungsfreistellung mit dem Schaden des Versicherten teilweise belastet. Das Dreiecksverhältnis zwischen Unternehmer/Arbeitskollege, Geschädigter bzw. Sozialversicherungsträger und Zweitschädiger lässt sich trotz oder gerade in Folge der Anwendung der §§ 104, 105 SGB VII einer befriedigenden Lösung nicht zuführen, weil der Gedanke der Haftungsbeschränkung und Haftungsersetzung (Rdn 17 ff.) unterlaufen wäre.
Rz. 249
Das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof hatten deshalb den Ausgleichsanspruch des Zweitschädigers gegen den Unternehmer bzw. Betriebsangehörigen blockiert, wobei zur Begründung das Modell des sog. gestörten Gesamtschuldverhältnisses herangezogen wurde. Den Interessen der haftungsprivilegierten Person war damit Rechnung getragen. Für den Zweitschädiger war das Ergebnis dagegen hart: Er hatte voll für den Schaden aufkommen, den ein anderer zur Hälfte mitverschuldet hatte.
Rz. 250
Die spätere Rechtsprechung hat dieses Ergebnis im Dreiecksverhältnis der beteiligten Parteien (Rdn 244 a.E.) als völlig unbefriedigend gewertet und, in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung den angesprochenen Fall neu und auch befriedigend gelöst.
Rz. 251
Die Lösung des Konflikts im Dreiecksverhältnis zwischen Geschädigtem (Sozialversicherungsträger), Unternehmer/Arbeitskollegen und Zweitschädiger kann bei einer Gestaltung wie hier ("gestörter Gesamtschuldnerausgleich") nicht darin gefunden werden, dass der nach §§ 104, 105 SGB VII (§§ 636, 637 RVO a.F.) freigestellte Mitschädiger gleichwohl im Ausgleich herangezogen wird. Damit würde der Schutzzweck der Haftungsbefreiung vereitelt werden, der dahin geht, dass diese privilegierten Personen endgültig freigestellt sein sollen.
Rz. 252
In der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 12.6.1973 ist in aller Klarheit offengelegt, dass der genannten neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus der Haftungsfreistellung des Mitschädigers noch nicht folgt, dass der Zweitschädiger den Gesamtschaden allein zu tragen hat.
Zitat
"Soweit reichen Sinn und Zweck des Haftungsausschlusses der §§ 636, 637 RVO nicht. Wenn nach dem Sinngehalt dieser Regelungen die privilegierten Mitschädiger auch endgültig freigestellt werden sollen, so ist dem Gesetz doch nichts dafür zu entnehmen, dass die Auswirkungen dieses versicherungsrechtlichen Haftungsvorrechts über den Kreis der am Versicherungsverhältnis Beteiligten hinausreichen und die Rechte eines zweiten Schädigers, der außerhalb des Versicherungsverhältnisses steht, beeinträchtigen sollen".
Für die §§ 104, 105 SGB VII kann im Verhältnis zum Zweitschädiger nichts anderes gelten.
Rz. 253
In den Fällen, denen zwischen mehreren Schädigern ein Gesamtschuldverhältnis besteht, sind die Ansprüche des Geschädigten gegen einen Gesamtschuldner (Zweitschädiger) auf den Betrag beschränkt, der auf diesen im Innenverhältnis zu dem anderen Gesamtschuldner (Erstschädiger) endgül...