Prof. Dr. Günther Schneider
Rz. 269
Seit Inkrafttreten des Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18.3.1971 sind Kindergartenkinder, Schüler und Studenten während des Besuches allgemeinbildender Schulen in der Unfallversicherung gegen "Arbeitsunfälle" versichert. Die damit normierte Ausdehnung der gesetzlichen Unfallversicherung hatte zum Ziel, den genannten Personenkreis in das Leistungssystem der gesetzlichen Unfallversicherung einzubeziehen.
Rz. 270
Die aus sozialpolitischen Motiven veranlasste Unterstellung des neu hinzu gekommenen Versichertenkreises in den Schutzbereich der Gesetzlichen Unfallversicherung und deren Prinzipien hat grundlegende Schwierigkeiten aufgeworfen, wie allein die Frage belegt, mit welchem Inhalt und letztlich mit welchem Verständnis z.B. die Begriffe Arbeitgeber, Arbeitsunfall, versicherte Tätigkeit, Jahresarbeitsverdienst, auch auf beispielsweise schulische Verhältnisse und unter Berücksichtigung des Verhaltens von Kindern und Heranwachsenden zu bestimmen sein sollten. Auch die Vorschriften zum Rückgriff und zum Haftungsausschluss bedurften wegen der Besonderheiten der Schülerunfallversicherung der gedanklichen Umformung.
Rz. 271
Ohne die in § 106 Abs. 1 SGB VII (Rdn 228; früher § 637 Abs. 4 RVO a.F.) normierte entsprechende Anwendung der §§ 104, 105 SGB VII (§§ 636, 637 RVO a.F.) für den Bereich der "Schülerunfallversicherung" wären mehr als neun Millionen Kinder in Kindergärten, Schüler und Hochschüler bei Schäden im Zusammenhang mit dem versicherten Verhältnis grundsätzlich der vollen zivilrechtlichen Haftung ausgesetzt, und zwar allein schon deshalb, weil Lernende keine Betriebsangehörige im Sinne des § 105 SGB VII sind. Die Verweisung dient dem Schulfrieden, d.h. dem ungestörten Zusammenleben von Lehrern und Schülern in der Schule. Das Finanzierungsargument spielt im Gegensatz zur allgemeinen Unfallversicherung keine Rolle.
Rz. 272
Die Umformung des Begriffs "betriebliche Tätigkeit" bereitet indessen Schwierigkeiten, weil Kindergärten, Schulen und Hochschulen naturgemäß nicht auf gegenseitigen Leistungsbeziehungen bzw. geschuldeten Dienstleistungen aufgebaut sind.
Rz. 273
Dies macht folgende Ausgangskonstellation deutlich: Bei echten Arbeitsunfällen kann als betriebliche Tätigkeit nur eine solche angesehen werden, deren Erledigung für den Betrieb dem Schädiger aufgegeben oder von ihm für den Betrieb übernommen war. Die Tätigkeit muss unmittelbar mit dem Zweck der betrieblichen Beschäftigung zusammenhängen und dem Betrieb dienlich sein (Rdn 160 ff.). Danach genügt es also nicht, dass es zu dem Unfall gekommen ist, weil der Schädiger und der Geschädigte im Betrieb anwesend waren und diese ihre gleichzeitige Anwesenheit erst die Gelegenheit gab, den Schaden zu verursachen. Ebenso wenig genügt es, dass jener Unfall für den Verletzten ein Arbeitsunfall war, er daher von seiner Berufsgenossenschaft entschädigt wird; denn diese Frage ist aus der Person des Geschädigten zu beantworten, während die sich hier stellende Frage aus der Person des Schädigers zu beantworten ist.
Rz. 274
Die Übertragung dieser Grundsätze auf einen Schulunfall muss die gegenüber der Arbeitswelt verschiedene "betriebliche Situation" in der Schule und den Zweck der Einbeziehung von Schulunfällen in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung berücksichtigen. Die Schüler sollen durch den Unterricht auf das spätere Berufsleben vorbereitet werden, um mit dem erworbenen Wissen in der Gesellschaft bestehen zu können. Die Handlungen und Tätigkeiten der Schüler im weitesten Sinn dienen daher nicht dem "Betrieb" der Schulen, sondern vielmehr den Jugendlichen selbst.
Rz. 275
Die Praxis hatte sich daher bald mit der inhaltlichen Konkretisierung des Begriffs der betrieblichen Tätigkeit im Zusammenhang mit Schulunfällen zu befassen.
Rz. 276
Eine "betriebliche Tätigkeit", die letztlich den Haftungsausschluss bewirkt, ist nicht nur zu bejahen, wenn die Handlung der Schule dient, sondern ebenso, wenn sie von der Schule veranlasst wurde bzw. im Rahmen des Unterrichts und zur Erreichung des Lehrziels erfolgte. So sind z.B. das unvorsichtige Hantieren mit Chemikalien während des Chemieunterrichts, das versehentliche "Beinstellen" im Sportunterricht als "betriebliche Tätigkeit" (besser gesagt: "schulbezogene Tätigkeit") einzuordnen. Gleiches gilt für Verletzungen beim Umgang mit Arbeitsgeräten.
Rz. 277
Weitaus schwieriger ist die Frage nach der "schulbezogenen Tätigkeit" zu beantworten, wenn die schädigende Handlung nicht im Unterricht erfolgt, sondern nur im Rahmen des Schulbesuches. Angesprochen sind hier z.B. die Pausenunfälle, Unfälle aus Neckereien und Raufereien bzw. Unfälle, die sich aus dem natürlichen Spieltrieb der Kinder entwickeln. So liegt z.B. eine schulbezogene Tätigkeit auch vor, wenn ein Schiller mit einem für den Bastelunterricht bestimmten Pappröhrchen eine Stecknadel verschießt und einen Mitschüler verletzt. Ebenso wenn ein bereits schulfreier Schüle...