Rz. 92
Ausschlussfristen, die in einer zweiten Stufe die Pflicht zur gerichtlichen Geltendmachung vorsehen, entfalten infolge der Entscheidung des BVerfG vom 1.12.2010 im Hinblick auf die vom Ausgang eines Kündigungsschutzrechtsstreits abhängigen Annahmeverzugslohnansprüche keine praktische Wirksamkeit mehr. Das BVerfG hatte argumentiert, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verbiete es, den Parteien eines Zivilprozesses den Zugang zu den Gerichten in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren; die Beschreitung des Rechtswegs werde auch dann faktisch vereitelt, wenn das Kostenrisiko zu dem angestrebten Erfolg außer Verhältnis stehe, so dass die Inanspruchnahme der Gerichte nicht mehr sinnvoll erscheine; dem Bürger dürfe der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten nicht durch Kostenbarrieren abgeschnitten werden. Die Vorschriften seien als Ausprägungen des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz auch bei der Anwendung von (im konkreten Fall: tariflichen) Ausschlussfristen zu berücksichtigen. Die von einer Ausschlussfrist für vom Ausgang eines Bestandsschutzstreits abhängige Annahmeverzugslohnansprüche verlangte (sofortige) gerichtliche Geltendmachung sei dem Arbeitnehmer nicht zumutbar, da dies sein Kostenrisiko erhöhe; es dürfe ihm die Obliegenheit zur Klageerhebung vor rechtskräftigem Abschluss des Vorprozesses nicht auferlegt werden.
Rz. 93
Dass das zuvörderst als Grundrecht des Bürgers gegenüber den staatlichen Gerichten bestehende Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz es gebietet, ggf. sogar Vereinbarungen zwischen Tarifvertragsparteien unangewendet zu lassen, war der gesamten Arbeitsgerichtsbarkeit über lange Zeit verborgen geblieben. Nachdem das BAG mit drei Urteilen die Entscheidung des BVerfG dahin gehend umgesetzt hat, dass ein Arbeitnehmer mit Erhebung einer Bestandsschutzklage (Kündigungsschutz- oder Befristungskontrollklage) die von deren Ausgang abhängigen Vergütungsansprüche "gerichtlich geltend" macht und damit die zweite Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist wahrt, kann an den neuen "Spielregeln" für die Praxis aber kein Zweifel mehr bestehen. Die ausdrücklich nur für tarifliche Ausschlussfristen ergangenen Urteile des 5. Senats dürften im Sinne eines Erst-Recht-Schlusses auf entsprechend ausgestaltete einzelvertragliche zweistufige Ausschlussfristen vollumfänglich übertragbar sein, zumal schon bisher bei arbeitsvertraglichen Klauseln, die lediglich ein "Einklagen" oder eine nicht näher bestimmte "gerichtliche Geltendmachung" fordern, nach der Auffassung des BAG die Erhebung der Kündigungsschutzklage genügte, um das Erlöschen der vom Ausgang des Kündigungsrechtsstreits abhängigen Annahmeverzugslohnansprüche des Arbeitnehmers zu verhindern. Für den Arbeitnehmeranwalt hat dieser Rechtsprechungswandel eine gewisse Entspannung bei der Führung von Kündigungsschutzprozessen zur Folge, da er nicht mehr ständig auf die Erhaltung der (potenziellen) Annahmeverzugslohnansprüche achten muss. Auf der anderen Seite kann die Erlangung einer Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung für noch während des Laufs des Kündigungsschutzprozesses rechtshängig gemachte Annahmeverzugslohnansprüche infolge des Rechtsprechungswandels schwieriger werden.
Rz. 94
Einige Ausschlussklauseln, die insbesondere in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen des Handwerks (z.B. § 14 BRTV-Bau) enthalten sind, sehen zur Vermeidung laufend zu erhebender Lohnklagen vor, dass die zweite Stufe der Ausschlussfrist für Ansprüche, die vom Ausgang eines Kündigungsrechtsstreits abhängen, erst mit Rechtskraft der den Kündigungsschutzprozess beendenden Entscheidung zu laufen beginnt. Der Arbeitnehmer kann hier bereits nach dem Inhalt der Klausel den Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens abwarten, muss dann aber die Frist, die nun für alle aufgelaufenen Ansprüche gilt, auf jeden Fall wahren. Fraglich ist, ob sich hieran im Gefolge der Entscheidung des BVerfG vom 1.12.2010 etwas geändert hat, ob also die Kündigungsschutzklage auch für diese Fälle bereits eine textliche als auch gerichtliche Geltendmachung darstellt, was zur Folge hätte, dass die Geltendmachung der Zahlungsansprüche auch nach Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens ohne Bindung an eine Frist möglich wäre. Dafür könnte angeführt werden, dass es widersprüchlich erschiene, eine Kündigungsschutzklage in Fällen "gewöhnlicher" zweistufiger Ausschlussfristen als gerichtliche Geltendmachung von Annahmeverzugslohnansprüchen anzusehen, im Fall des vorliegenden Ausschlussfristentyps jedoch nicht. Doch greift andererseits das Argument des BVerfG, es erhöhe sich das Kostenrisiko durch den Zwang, vor Abschluss des Kündigungsschutzprozesses die Zahlungsansprüche einzuklagen, bei den hier in Rede stehenden Klauseln im Grunde nicht, weil sie dies gerade nicht fordern. Eine klare Einschätzung der Problematik ist gegenwärtig nicht möglich. Bis zu einer höchstrichterlichen Klärung sollten deshalb nach Abschluss des Kündigungsschutzrechtsstreits ...