Rz. 1
Der Kündigungsschutzprozess stellt die häufigste Form arbeitsgerichtlicher Auseinandersetzungen dar. Sein Streitgegenstand, ob ein Arbeitsverhältnis beendet oder aber durch die angegriffene Kündigung zu einem bestimmten Zeitpunkt (Ablauf der Kündigungsfrist) nicht aufgelöst ist, besitzt vor allem für den Arbeitnehmer höchste wirtschaftliche Bedeutung. Von den beteiligten Anwälten fordert er neben fundierten Kenntnissen des prozessualen und materiellen Arbeitsrechts besonderes taktisches Gespür. Die Tatsache, dass gerade die Taktik im Kündigungsschutzprozess von herausgehobener Bedeutung ist, lässt sich darauf zurückführen, dass das Kündigungsschutzverfahren im Gegensatz zu den meisten anderen gerichtlichen Auseinandersetzungen von einer dynamischen Entwicklung geprägt wird. Das wird deutlich, wenn man es mit einem beliebigen – inner- oder außerhalb des Arbeitsrechts geführten – Zahlungsrechtsstreit vergleicht.
Rz. 2
Die auf Leistung gerichtete Zahlungsklage bezieht sich regelmäßig ausschließlich auf einen in der Vergangenheit gelegenen Sachverhalt. Dieses Ereignis und damit auch seine Rechtsfolgen sind im Wesentlichen nicht mehr veränderbar. Das gerichtliche Verfahren ist für die beteiligten Rechtsanwälte geprägt von der Aufgabe, substantiiert darzustellen bzw. unter Beweis oder Gegenbeweis zu stellen, warum ein Zahlungsanspruch besteht oder nicht besteht. Die infolge eines gerichtlichen Verfahrens notwendigerweise auftretenden zeitlichen Verzögerungen haben per saldo keine den Kläger begünstigenden Effekte. Zwar erhöht sich die Nebenforderung regelmäßig infolge eines ständig wachsenden Zinsanspruchs; dem steht aber meist das wirtschaftliche Bedürfnis der Klagpartei gegenüber, die beanspruchte Summe zügig zu erhalten, was z.B. auf die bei Gewerbetreibenden oftmals knappen liquiden Mittel zurückzuführen ist. Die mit einem Gerichtsverfahren durch zwei oder gar drei Instanzen verbundene Verzögerung stellt daher in Zahlungsprozessen regelmäßig ein Druckmittel des Beklagten dar, mit dessen Hilfe sich ein zum Vorteil des Klägers zeitnaher, dafür aber mit Abschlägen an der Forderung verbundener, Vergleich erzielen lässt.
Rz. 3
Dagegen betreffen kündigungsschutzrechtliche Auseinandersetzungen mit dem Arbeitsverhältnis ein Dauerschuldverhältnis, also einen Vertrag, aus dem, wenn er über den Kündigungsendtermin hinaus fortbesteht, ständig neue Rechte und Pflichten für die Parteien erwachsen. In der Praxis sind dies regelmäßig nur Zahlungsverpflichtungen des Arbeitgebers. Mit der Kündigung hat der Arbeitgeber erklärt, dass er die Arbeitskraft des Arbeitnehmers künftig nicht mehr in Anspruch nehmen will. Ist die Kündigung unwirksam, gerät der Arbeitgeber – nach dem in der Kündigung ausgesprochenen Beendigungszeitpunkt – regelmäßig in Annahmeverzug (§ 615 S. 1 BGB, § 11 KSchG). Der Arbeitnehmer muss für den zunächst an seiner Kündigung festhaltenden Arbeitgeber keine Arbeitsleistung erbringen und ist wegen deren Fixschuldcharakter auch nicht zur Nachleistung verpflichtet (§ 615 S. 1 BGB a.E.). Damit können im Kündigungsschutzprozess Monat für Monat weitere Zahlungsansprüche des Arbeitnehmers entstehen, vorausgesetzt, er ist leistungsbereit und -fähig. Zwar muss sich der Arbeitnehmer gem. § 615 S. 2 Alt. 1 BGB, § 11 Nr. 1 KSchG den Wert anderweitigen Erwerbs auf seine Zahlungsansprüche anrechnen lassen, häufig erzielt er aber keinen. Der Bezug von Arbeitslosengeld mindert die finanzielle Last für den Arbeitgeber im Ergebnis nicht, da die Lohnforderung des Arbeitnehmers insoweit nicht erlischt, sondern gem. § 115 SGB X auf die Bundesagentur für Arbeit übergeht. Der Tatbestand böswillig unterlassenen anderweitigen Erwerbs (§ 615 S. 2 Alt. 2 BGB, § 11 Nr. 2 KSchG) wird in der arbeitsgerichtlichen Praxis aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen selten festgestellt. Der mit dem Prozess verbundene Zeitablauf bedeutet also in vielen Fällen ein erhebliches wirtschaftliches Risiko für den beklagten Arbeitgeber, der zu Beginn des Verfahrens nicht weiß, ob die von ihm für wirksam erachtete Kündigung der gerichtlichen Überprüfung standhält.
Rz. 4
Diese aus der Sicht des zivilprozessualen Generalisten atypische Prozesssituation zieht besondere Anforderungen an das prozesstaktische Verhalten auf Kläger- und Beklagtenseite nach sich.