I. Festlegung der Ziele
Rz. 53
Die im Kündigungsschutzverfahren verfolgten Ziele richten sich maßgeblich danach, welche Aussichten der Arbeitnehmer besitzt, zukünftig ein neues Beschäftigungsverhältnis begründen zu können.
Rz. 54
In manchen Fällen ist es dem Arbeitnehmer bereits gelungen, ein Anschlussarbeitsverhältnis zu begründen. Teilweise haben Arbeitnehmer einen solchen Vertragsschluss noch nicht herbeigeführt, befinden sich aber in Verhandlungen mit neuen Arbeitgebern, die so weit fortgeschritten sind, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit von ihrem Erfolg ausgegangen werden kann. In anderen Fällen besitzt der Arbeitnehmer nur eine mehr oder weniger große Chance, am Arbeitsmarkt eine neue Stelle zu finden. Niemand vermag in diesen Fällen sicher zu sagen, wann er wieder in Lohn und Brot stehen wird. Dennoch ist es zur sachgerechten Definition der im Prozess verfolgten Ziele erforderlich, zusammen mit dem Arbeitnehmer eine möglichst genaue Prognose über dessen berufliche Aussichten zu treffen.
Rz. 55
Dabei wird der Anwalt insbesondere folgende Faktoren berücksichtigen:
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die allgemeine konjunkturelle Lage, |
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die Berufssparte, in der der Arbeitnehmer Berufserfahrung hat bzw. in der er sucht, |
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die Qualifikation des Arbeitnehmers, |
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das Lebensalter des Arbeitnehmers, |
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den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers, |
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die örtliche Flexibilität des Arbeitnehmers, |
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die Bereitschaft des Arbeitnehmers, Neues zu lernen, |
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das/die Arbeitszeugnis/se des Arbeitnehmers. |
Rz. 56
Zur besseren Strukturierung seiner eigenen Überlegungen kann der Arbeitnehmervertreter seinen Mandanten dabei gedanklich in eine von drei Risikogruppen einordnen:
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Gruppe 1: Arbeitnehmer, die voraussichtlich nur von Kurzzeitarbeitslosigkeit betroffen sein werden (bis zu drei Monate), |
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Gruppe 2: Arbeitnehmer, die voraussichtlich einer Phase der Arbeitslosigkeit von mittlerer Dauer ausgesetzt sein werden, |
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Gruppe 3: Arbeitnehmer, die von Langzeit- oder Dauerarbeitslosigkeit bedroht sind. |
Rz. 57
Je höher die Risikogruppe, desto höher ist auch der Wert, den der Arbeitsplatz bei dem bisherigen Arbeitgeber für den Mandanten darstellt. Je höher der Wert des Arbeitsplatzes, desto mehr besteht Anlass, um seinen Erhalt zu kämpfen, und desto höher muss auch die Abfindung bemessen sein, wenn der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz im Rahmen von Vergleichsverhandlungen aufgibt. Diesen Überlegungen korrespondiert die Tatsache, dass der Kündigungsschutzprozess für den Arbeitgeber ein umso höheres Risiko darstellt, je länger die Phase der Arbeitslosigkeit bei dem klagenden Arbeitnehmer anhält. Das Risiko des Arbeitgebers, bei rechtskräftigem Unterliegen im Kündigungsschutzprozess Annahmeverzugslohn für die vergangene Zeit zahlen zu müssen, das sich Monat für Monat aufbaut, ist aus taktischer Sicht das Vehikel, mit dessen Hilfe der Arbeitnehmer seinen Forderungen nach einer Abfindung gegebenenfalls Nachdruck zu verleihen vermag.
Rz. 58
Sind die beruflichen Aussichten des Arbeitnehmers ermittelt, ist die Frage zu stellen, ob er primär an seinem Arbeitsplatz festhalten oder aber gegen Zahlung einer Abfindung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden will. Die Praxis zeigt, dass der überwiegende Teil der Arbeitnehmer eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses verbunden mit der Zahlung einer möglichst hohen Abfindung anstrebt. Das ist leicht nachvollziehbar für diejenigen Fälle, in denen der Mandant einen neuen Arbeitsplatz bereits gefunden oder in Aussicht hat oder mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen kann, binnen kurzer Zeit etwas Neues zu finden. Aber auch diejenigen Arbeitnehmer, die von mittlerer, längerer oder gar von Dauerarbeitslosigkeit bedroht sind, haben oft das Interesse an dem Erhalt ihres Arbeitsplatzes verloren. Das hat seinen Grund meist darin, dass sie ihre Arbeitstätigkeit als sehr belastend empfinden, weil zwischen ihnen und dem Arbeitgeber Spannungen bestehen, oder dass sie beim Festhalten am Arbeitsplatz jedenfalls ein schlechtes Arbeitsklima befürchten.
Rz. 59
Bei Arbeitnehmern, die bereits einen neuen Arbeitsplatz gefunden, einen solchen sicher in Aussicht haben oder allenfalls von Kurzzeitarbeitslosigkeit bedroht sind, besteht das Ziel des Kündigungsschutzprozesses regelmäßig in der Erlangung einer Abfindung. Häufig existieren jedoch gerade bei dieser Personengruppe erhebliche Fehlvorstellungen bezüglich deren Höhe, weil dem Laien der Zusammenhang zwischen dem Annahmeverzugslohnrisiko und der Höhe der Abfindung nicht geläufig ist.
Rz. 60
Praxishinweis
Der Anwalt sollte diesen Zusammenhang erläutern und allzu hochgesteckte Erwartungen des Arbeitnehmers dämpfen. Kann dann doch durch geschicktes Verhandeln eine akzeptable Abfindung erzielt werden, wird der Grad der beim Mandanten erreichten Zufriedenheit regelmäßig höher sein als für die Fälle, in denen der Anwalt dessen hochfliegende Erwartungen zunächst bestätigt, dann aber später kleinlaut seine Empfehlung für einen Vergleichsschluss zu bescheidener Münze geben muss.
Rz. 61
Will hingegen ein Mandant, der der zweiten oder gar ...