I. Allgemeines
Rz. 38
Der Fahrzeugführer muss in den Fällen einer Katalogtat nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB grob verkehrswidrig und rücksichtslos gehandelt haben.
Achtung: Gleichzeitig
Die grobe Verkehrswidrigkeit und die Rücksichtslosigkeit müssen gleichzeitig vorgelegen haben (OLG Hamm zfs 2006, 110).
Es genügt nicht, dass bei der gleichen Fahrt ein Verstoß grob verkehrswidrig und ein anderer rücksichtslos war (BGH VRS 16, 132; OLG Oldenburg DAR 2002, 89; OLG Hamm zfs 2006, 110).
II. Grob verkehrswidrig
Rz. 39
Die grobe Verkehrswidrigkeit kennzeichnet ein Verhalten, das sich objektiv als besonders schwerer Verstoß gegen eine Verkehrsvorschrift und die Sicherheit des Straßenverkehrs darstellt (BGHSt 5, 392) – eben ein besonders gefährliches Abweichen von dem pflichtgemäßen Verhalten eines Kraftfahrers (OLG Köln DAR 1992, 469) – z.B. Überholen bei außerordentlich schlechter Sicht (OLG Koblenz VRS 52, 39) oder viel zu schnelles Heranfahren an einen "Zebrastreifen" (OLG Düsseldorf VM 74, 37). Dabei ist zu beachten, dass Fußgängerüberwege im Sinne dieser Vorschrift ausschließlich solche sind, die die Anforderungen des § 26 StVO erfüllen, also mit Zeichen 293 zu § 41 StVO i.V.m. dem Hinweiszeichen 350 zu § 42 StVO markierte Zebrastreifen sind (OLG Celle DAR 2013, 215).
Grob verkehrswidrig kann schließlich für sich genommen auch das Fahren mit weit übersetzter Geschwindigkeit sein (BVerfG, Beschl. v. 13.4.1999 – 2 BvR 577/99).
III. Rücksichtslos
Rz. 40
Rücksichtslosigkeit ist ein Verhalten, das über den in jedem Verstoß liegenden Mangel an Rücksichtnahme weit hinausgeht. Es ist mehr als grobe Nachlässigkeit, nämlich Leichtsinn, Eigensucht und Gleichgültigkeit gegenüber anderen (BGH VRS 50, 342; BayObLG NZV 1993, 318; OLG Koblenz SVR 2016, 353).
Rz. 41
Der Kraftfahrer muss die Pflicht zur Rücksichtnahme bewusst schwer verletzt haben.
Rz. 42
Achtung: Nicht bei Unaufmerksamkeit oder sonstigem menschlichen Versagen
Bloße Gedankenlosigkeit reicht nicht aus (OLG Stuttgart DAR 1976, 23; OLG Düsseldorf zfs 2000, 413). Von Rücksichtslosigkeit kann daher bei bloßer Unaufmerksamkeit oder sonstigem menschlichen Versagen nicht die Rede sein (OLG Hamm zfs 2006, 49; OLG Stuttgart NZV 2017, 494), so z.B. auch, wenn der Betreffende die zwischenzeitlich vorgenommene Änderung eines Schaltplans einer Ampel nicht wahrgenommen hat (LG Saarbrücken zfs 2003, 42).
Rz. 43
Bei dem Merkmal der Rücksichtslosigkeit handelt es sich vielmehr um ein subjektives Schuldmerkmal, das nicht einfach allein aus dem äußeren Tatgeschehen gefolgert werden kann (BGH VRS 50, 342), vielmehr sind die Beweggründe für das vom Täter gezeigte Verhalten von mitentscheidender Bedeutung (OLG Düsseldorf NJW 1989, 2763; LG Kiel StV 2018, 452). Sie müssen deshalb auch im Urteil dargelegt werden (OLG Düsseldorf zfs 2000, 413; OLG Koblenz SVR 2016, 353).
IV. Kausalität
Rz. 44
Auch hier muss ein innerer Zusammenhang zwischen dem groben Verstoß und der konkreten Gefahr bestehen. Hat z.B. die Unübersichtlichkeit der Stelle, auf die der Fahrer zugefahren ist, nicht zu der konkreten Gefahr beigetragen, kann der Tatbestand nicht erfüllt sein (OLG Stuttgart DAR 1998, 362).
V. Eigenhändiges Delikt
Rz. 45
Täter i.S.d. § 315c StGB kann nur sein, wer ein Kfz selbst in Bewegung setzt oder es während der Fahrt – wenn auch vom Beifahrersitz aus – lenkt. Wer nur als Beifahrer im Fahrzeug sitzt, kann – auch wenn er Halter ist – nicht Mittäter sein (BGH NZV 1995, 364; BGH StraFo 2007, 475).
VI. Vorsatz
Rz. 46
Der relativ hohe Strafrahmen des § 315c Abs. 1 StGB kommt nur zur Anwendung, wenn hinsichtlich aller Tatumstände zumindest bedingter Vorsatz vorliegt, d.h. der Vorsatz muss neben der Handlung auch die konkrete Gefahr umfassen. Der Täter muss also die Umstände kennen, die den Gefahrerfolg im Sinne eines Beinaheunfalls als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen und diese Gefahrenlage zumindest billigend in Kauf genommen haben (BGH NJW 2016, 1109; BGH, Urt. v. 15.1.2019 – 4 StR 569/18).
Anderenfalls liegt allenfalls die Vorsatz-Fahrlässigkeit-Kombination des Absatz 3 vor, für die eine erheblich mildere Höchststrafe gilt (BGH zfs 2014, 715).
VII. Exkurs: Provozierte Unfälle
Rz. 47
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Zur Strafbarkeit eines provozierten Auffahrunfalls: BGH NZV 1999, 91. Aber auch hier ist ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr i.S.d. § 315b StGB nur gegeben, wenn die abstrakte Gefahrenlage zu einer konkreten Gefährdung von Leib und Leben oder fremden Sachen von bedeutendem Wert geführt hat, wobei der BGH die Wertgrenze nach wie vor bei 750,00 EUR sieht (BGH DAR 2013, 709). |
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Das "Ausbremsen" kann eine Straßenverkehrsgefährdung sein, vgl. aber zur einschränkenden Auslegung: OLG Düsseldorf NZV 1994, 37. |
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Zum bedingten Tötungsvorsatz bei abruptem Spurwechsel bei hohen Geschwindigkeiten: BGH DAR 2006, 284. |
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Zum bedingten Tötungsvorsatz beim Zufahren auf einen Polizeibeamten, um sich freie Bahn zu verschaffen: BGH StV 2014, 345. |
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Zum Mordmerkmal "mit gemeingefährlichen Mitteln" beim Einsatz eines Pkw als Werkzeug: BGH DAR 2007, 526. |