Rz. 92

Insbesondere in schwierigen Schätzungsfällen hat sich die tatsächliche Verständigung zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung durchgesetzt.[114] Das Steuerrecht unterliegt dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, so dass es den Vergleich an sich nicht kennt. Jedoch ist spätestens seit der BFH-Entscheidung vom 11.12.1984[115] anerkannt, dass zwar eine Verständigung über Rechtsfragen nicht zulässig ist, man jedoch über tatsächliche Umstände eine bindende[116] tatsächliche Verständigung treffen kann; sie soll möglich sein bei schwierig zu ermittelnden Sachverhalten.

[114] Siehe ausführlich BMF v. 30.7.2008, BStBl I 2008, 831; OFD Karlsruhe BB 1996, 2397; Bruschke, DStR 2010, 2611; Schmidt-Liebig, DStZ 1996, 643; von Wedelstädt, AO-StB 2001, 191.
[115] BStBl II 1985, 354; bestätigend BFH v. 6.2.1991, BStBl II 1991, 673.
[116] Vgl. zu den Fragen der Bindung an die Verständigung Rätke, in: Klein, § 78 AO Anm. 5; Tipke/Kruse, § 38 AO Rn 21; vgl. zur Anfechtung einer tatsächlichen Verständigung BFH v. 1.9.2009, BFH/NV 2010, 593.

a) Praxis

 

Rz. 93

Diese feine Unterscheidung verwischt die Praxis nahezu bis zur Unkenntlichkeit. Es ist oft möglich, eine Einigung in den Bereich des Tatsächlichen zu verlagern, auch wenn es sich im Grunde genommen um eine rechtliche Streitigkeit handelt.[117] Voraussetzung einer tatsächlichen Verständigung ist neben einer Einigung über vergangene Sachverhalte (nicht einen erst zukünftig entstehenden Sachverhalt), dass auf Seiten der Finanzverwaltung an der tatsächlichen Verständigung ein für die Steuerfestsetzung zuständiger Beamter (Sachgebietsleiter, Vorsteher und u.U. der Leiter der Rechtsbehelfsstelle) teilnimmt.[118] Im Rahmen der Schlussbesprechung einer Außenprüfung muss ein solcher Beamter zusätzlich anwesend sein. Der Betriebsprüfer selbst oder sein Sachgebietsleiter kann nicht in eigener Zuständigkeit eine tatsächliche Verständigung abschließen.[119] Schriftform ist zwar nicht erforderlich, aber aus Beweisgründen zu empfehlen.[120]

[117] Anm. Schlüßel, zu BFH v. 31.3.2004, AO-StB 2004, 303; Milatz, INF 1986, 300; Streck gibt in Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 18, Der Rechtsschutz in Steuersachen, S. 187, ein Beispiel: Soweit eine Verständigung über die "rechtliche" Steuerfreiheit von Einnahmen verboten ist, schlägt er eine Vereinbarung vor, dass solche Einnahmen nicht angefallen sind oder ihnen in gleicher Höhe Betriebsausgaben gegenüberstehen; siehe auch Seer, BB 1999, 78.
[118] Zu den Voraussetzungen im Einzelnen vgl. BMF v. 30.7.2008, BStBl I 2008, 831; Bornheim, AO-StB 2004, 363; siehe auch die Checkliste in Pump/Fittkau, AO-StB 2007, 129 ff., 154 ff.
[119] BFH v. 5.10.1990, BStBl II 1991, 45; BFH v. 31.7.1991, BStBl II 1992, 264.
[120] BFH v. 31.7.1996, BStBl II 1996, 625; BFH v. 21.6.2000, BFH/NV 2001, 829.

b) Bindung

 

Rz. 94

Soweit im Rahmen einer Betriebsprüfung eine tatsächliche Verständigung in zulässiger und wirksamer Weise getroffen wurde, ist die Finanzbehörde daran bereits vor Erlass der darauf beruhenden Steuerbescheide gebunden.[121] Die Bindungswirkung tritt allerdings nur zwischen der jeweils handelnden Finanzbehörde und den unmittelbar beteiligten Steuerpflichtigen ein. Eine Erstreckung der Bindungswirkung auf Dritte, für die Steuerschulden im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung übernommen wurden, lässt sich mit dem Grundgesetz nicht vereinbaren.[122]

[121] BFH v. 31.7.1996, BStBl II 1996, 625 m.w.N.; Bornheim, AO-StB 2004, 399.

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