Rz. 70
In § 116 SGB X sind jedoch vier Ausnahmen vom Forderungsübergang normiert, wobei der Gesetzgeber die bereits vom BGH entwickelten Ausnahmeregelungen zum Forderungsübergang des § 1542 RVO in das Gesetz übernommen hat.
Rz. 71
Tipp
Die vier nachfolgenden Ausnahmen wirken sich zugunsten des Geschädigten aus. Sie müssen deshalb vom Vertreter des Geschädigten unbedingt beachtet werden. Es ist kaum zu erwarten, dass Sozialleistungsträger oder Haftpflichtversicherer des Schädigers von sich aus auf die den Geschädigten begünstigenden Ausnahmen hinweisen.
1. Befriedigungsvorrecht des Geschädigten nach § 116 Abs. 4 SGB X
Rz. 72
Wenn der Durchsetzung der Ansprüche auf Ersatz eines Schadens tatsächliche Hindernisse entgegenstehen, hat die Durchsetzung der Ansprüche des Geschädigten oder seiner Hinterbliebenen Vorrang vor den übergegangenen Ansprüchen nach § 116 Abs. 1 SGB X.
Rz. 73
Mit dem Begriff "tatsächliche Hindernisse" meint der Gesetzgeber den Fall, dass der Schädiger und/oder sein Haftpflichtversicherer nicht genügend Mittel zur Verfügung haben, um sämtliche Ansprüche des Geschädigten und der Sozialleistungsträger befriedigen zu können.
Rz. 74
Beispiel
Der mittellose Schädiger, der sein Kraftfahrzeug lediglich mit der Mindestversicherungssumme von seinerzeit 2,5 Mio. EUR (nach der Anlage 1 zu § 4 Abs. 2 PflVG, inzwischen 7,5 Mio. EUR) für Personenschäden versichert hatte, verschuldet einen Verkehrsunfall, bei dem sein Unfallgegner eine hohe Querschnittslähmung erleidet, die ihn voll pflegebedürftig werden lässt.
Rz. 75
Hier reichen die finanziellen Mittel des Schädigers persönlich ebenso wenig wie die Mindestversicherungssumme von 2,5 Mio. EUR aus, um die Schadensersatzansprüche des Geschädigten und der Sozialleistungsträger insgesamt auszugleichen. In diesem Fall greift das Befriedigungsvorrecht des Geschädigten nach § 116 Abs. 4 SGB X ein mit der Folge, dass der Geschädigte sämtliche ihm verbliebenen Schäden vorab erhält und die Sozialleistungsträger wegen der auf sie übergegangenen Schadensersatzansprüche nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X nur nachrangig regressieren können (BGH VersR 1979, 30).
Rz. 76
Das Befriedigungsvorrecht des Geschädigten gilt jedoch nur gegenüber seinem eigenen Sozialleistungsträger (BGH VersR 1979, 30). Das bedeutet, dass bei mehreren Geschädigten, die gegenüber verschiedenen Sozialleistungsträgern nach § 116 Abs. 4 SGB X bevorrechtigt sind, untereinander eine Art Verteilungsplan aufgestellt werden muss.
Rz. 77
Reicht die Versicherungssumme zur Befriedigung mehrerer Betroffener nicht aus, führt dies natürlich nicht dazu, dass die Verteilung der Versicherungssumme generell unterbleibt. Vielmehr findet zunächst im Rahmen des Verteilungsverfahrens die anteilige Kürzung aller Forderungen statt. Dann erhält der Geschädigte von den Ansprüchen seiner Rechtsnachfolger im Rahmen seines Befriedigungsvorrechts den Anteil, der erforderlich ist, um seinen Ausfall infolge der Kürzung auszugleichen (BGH zfs 2003, 589).
Rz. 78
Dieses Befriedigungsvorrecht ist im Rahmen des Rechtsstreits bereits im Erkenntnisverfahren zu berücksichtigen (BGH NJW 1982, 2321; OLG Koblenz FamRZ 1977, 68).
2. Quotenvorrecht des Geschädigten bei unzureichender Haftungshöchstsumme
Rz. 79
Ist der Anspruch auf Ersatz eines Schadens durch Gesetz der Höhe nach begrenzt, so erfolgt ein Forderungsübergang auf den Sozialleistungsträger nur, soweit er nicht zum Ausgleich des Schadens des Geschädigten oder seiner Hinterbliebenen erforderlich ist (§ 116 Abs. 2 SGB X).
Rz. 80
Ebenso wie das Befriedigungsvorrecht des § 116 Abs. 4 SGB X ist das Quotenvorrecht des § 116 Abs. 2 SGB X ein echtes uneingeschränktes Quotenvorrecht zugunsten des Geschädigten. Das bedeutet, dass seine Schadensersatzansprüche insgesamt quotenbevorrechtigt zu den Leistungen der Sozialleistungsträger zu berücksichtigen und dementsprechend bevorrechtigt vom Schädiger zu ersetzen sind (BGH zfs 1997, 329).
Rz. 81
Praktisch bedeutsam war das Quotenvorrecht des § 116 Abs. 2 SGB X insbesondere in den Fällen, in denen der Schädiger nur nach StVG oder HPflG haftete, da hier bis zum 31.7.2002 nur die relativ geringen Haftungshöchstsummen des § 12 StVG und § 9 HPflG galten (hierzu im Einzelnen siehe § 2 Rdn 266, 336 ff.).
Rz. 82
Durch die beachtliche Anhebung der Haftungshöchstgrenzen im StVG, HPflG und anderen gesetzlichen Vorschriften durch das Zweite Schadensrechtsänderungsgesetz seit dem 1.8.2002 und erneut zum 18.12.2007 dürfte das Quotenvorrecht des Geschädigten nach § 116 Abs. 2 SGB X nur noch in extremen Ausnahmefällen oder ggf. in Rentenfällen eines hochverdienenden Geschädigten zur Anwendung kommen.
Rz. 83
Die Haftungshöchstgrenzen der §§ 37, 46 Luftverkehrsgesetz (LuftVG), des § 10 ProdHaftG und des § 15 UmweltHG sind dagegen im Verkehrsrecht praktisch ohne Bedeutung.
Rz. 84
Nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 StVG in der seit dem 18.12.2007 geltenden Fassung haftet der Schädiger im Falle der Tötung oder Verletzung eines oder mehrerer Menschen beispielsweise bis zu einem Kapitalbetrag von 5 Mio. EUR. Diese beachtlich angehobenen Haftungshöchstsummen dürften mit Ausnahme von extrem schweren Personenschäden nunmehr ausreichen, um...