Rz. 101
Das Familienprivileg nach § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X schließt einen Forderungsübergang auf einen Sozialleistungsträger bei nicht vorsätzlichen Schädigungen durch Familienangehörige, die mit dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen in häuslicher Gemeinschaft leben, aus. Diese Regelung entspricht dem § 67 Abs. 2 VVG a.F. im Privatversicherungsrecht, der nunmehr aufgrund der Neufassung in § 86 Abs. 3 VVG nur noch die häusliche Gemeinschaft, nicht mehr jedoch zusätzlich die Angehörigeneigenschaft voraussetzt.
Rz. 102
Der Grundgedanke des Familienprivilegs sowohl im Sozialleistungsrecht als auch in der privaten Schadensversicherung liegt darin, dass zum einen der Familienfrieden gewahrt werden, zum anderen die Familienkasse geschützt werden soll. Der BGH hat in seiner Entscheidung in VersR 1986, 333 ff. diese ratio legis des Familienprivilegs nochmals deutlich gemacht: Durch den Regress gegenüber einem mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen würde bei einer nur fahrlässigen Schädigung der Familienfrieden erheblich belastet und gefährdet, wenn der Streit über die Verantwortlichkeit etwa sogar im Klageweg ausgetragen werden müsste – eine Klage, die der Geschädigte selbst niemals führen würde, um den häuslichen Frieden nicht zu stören. Zum anderen sieht der BGH die Familie als eine wirtschaftliche Einheit, sodass bei einem Rückgriff des Legalzessionars gegen den Schädiger die "Familienkasse" entgegen den Vorstellungen des Gesetzgebers direkt belastet würde, wenn der Sozialleistungsträger oder Privatversicherer mit der einen Hand Gelder in die Familienkasse legt und dann wiederum mit der anderen Hand diese Gelder aus der Familienkasse im Wege des Regresses herausholt.
Rz. 103
Der Ausschluss des Anspruchsübergangs gilt auch dann, wenn der schädigende Angehörige haftpflichtversichert ist (BGH VersR 1977, 149; BGH VersR 1980, 644; OLG Hamburg NZV 1993, 71 und nochmals bestätigt durch BGH VersR 2001, 215; BGH VersR 2018, 831).
Die Folge einer faktischen Doppelentschädigung des Geschädigten aufgrund fehlender Anrechnung kongruenter Ansprüche nimmt der BGH in Kauf (BGH VersR 2001, 215; BGH v. 17.10.2017 – VI ZR 423/16 – VersR 2018, 831). Zur Vermeidung einer Doppelentschädigung in der besonderen Fallkonstellation, in der neben dem angehörigen Schädiger noch ein weiterer Fremdschädiger für denselben kongruenten Schaden haftet, vgl. BGH v. 17.10.2017 (VI ZR 423/16 – VersR 2018, 831).
Rz. 104
Familienangehörige im Sinne des § 116 SGB X sind Eheleute, Verwandte auf- und absteigender Linie und Verschwägerte im Sinne der §§ 1589 und 1590 BGB. Das Familienprivileg gilt auch in den Fällen, in denen Schädiger und Geschädigter nach dem Schadensereignis heiraten und in häuslicher Gemeinschaft leben (BGH VersR 1976, 289).
Rz. 105
Auch das Pflegekind zählt bei einem länger dauernden und intensiven Pflegeverhältnis zu den Familienangehörigen im Sinne der Vorschrift (BGH VersR 1980, 526; OLG Stuttgart NJW-RR 1993, 1418). Das Familienprivileg dürfte auch den Partnern einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz zugutekommen.
Rz. 106
Dagegen wurde in der Vergangenheit angenommen, dass das Familienprivileg nicht auf eheähnliche Lebensgemeinschaften anzuwenden ist (BGH VersR 1988, 253), wenn auch gerade in der Literatur und Rechtsprechung hierzu gewisse Tendenzen im Interesse der Ausdehnung des Familienprivilegs auf eheähnliche Lebensgemeinschaften zu erkennen sind (LG Saarbrücken VersR 1995, 158; LG Potsdam VersR 1997, 93; OLG Hamm NJW-RR 1997, 90; OLG Brandenburg NJW 2002, 1581; ebenso Schirmer, Ausdehnung des Familienprivilegs auf eheähnliche Lebensgemeinschaften, DAR 1988, 289; Pardey, DAR 1994, 265). Sodann hatte zunächst der Versicherungssenat des BGH entschieden, dass das frühere Familienprivileg im Privatversicherungsrecht (§ 67 Abs. 2 VVG a.F.) auf langjährige, eheähnliche Lebensgemeinschaften anwendbar ist (BGH VersR 2009, 813; dazu Terno, zfs 2009, 362). Vor dem Hintergrund einer weiteren Entscheidung des BVerfG (v. 12.10.2010 – 1 BvL 14/09 – NJW 2011, 1793; dazu Anm. Lang, jurisPR-VerkR 6/2011 Anm. 11) zur verfassungskonformen Auslegung des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X hat inzwischen auch der Haftungssenat des BGH unter ausdrücklicher Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung die analoge Anwendbarkeit des Familienprivilegs des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X auf eheähnliche Lebensgemeinschaften bestätigt (BGH v. 5.2.2013 – VI ZR 274/12 – VersR 2013, 520 = zfs 2013, 320).
Rz. 107
Häusliche Gemeinschaft im Sinne des § 116 SGB X ist gegeben, wenn die Lebens- und Wirtschaftsführung auf Dauer in einem gemeinsamen Haushalt praktiziert wird und der Lebensmittelpunkt sich in einem gemeinsam bewohnten Haus oder einer gemeinsamen Wohnung befindet (BGH VersR 1980, 644). Man muss miteinander "leben" (BGH VersR 1988, 333).
Rz. 108
Die häusliche Gemeinschaft muss auf Dauer angelegt sein. Gegebenenfalls muss die gemeinsame Wirtschaftsführung nachgewiesen werden (OLG Frankfurt VersR 1984, 254...