Rz. 588
a) Der Fall
Rz. 589
Die klagende Bundesagentur für Arbeit nahm als Trägerin der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung den Beklagten gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII auf Ersatz ihr entstandener Aufwendungen nach einem Arbeitsunfall ihres Versicherten W. in Anspruch.
Rz. 590
Der bei dem Beklagten beschäftigte Versicherte brach am 16.4.2009 bei Dachdeckerarbeiten durch ein Hallendach und stürzte etwa 6,5 Meter in die Tiefe. Dabei verletzte er sich so schwer, dass er nicht mehr in seinem Beruf als Dachdecker arbeiten kann. Durch ordentliche Kündigung vom 27.6.2009 beendete der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Versicherten zum 31.7.2009. Vom 14.10.2010 bis zum 11.10.2011 bezog der Versicherte Arbeitslosengeld. Zusammen mit Sozialversicherungsbeiträgen wendete die Klägerin dafür einen Betrag von 16.059,06 EUR auf, dessen Ersatz sie von dem Beklagten begehrte. Ferner beantragte sie die Feststellung, dass der Beklagte zum Ersatz sämtlicher weiterer ihr aus dem Schadensereignis entstehender Aufwendungen verpflichtet sei. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg gebliebenen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 591
Die Revision hatte keinen Erfolg. Das Berufungsgericht war zutreffend davon ausgegangen, dass die klagende Bundesagentur für Arbeit kein Sozialversicherungsträger i.S.d. § 110 Abs. 1 SGB VII und daher nicht anspruchsberechtigt ist.
Rz. 592
Den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeiführende Personen, deren Haftung nach den §§ 104 bis 107 SGB VII beschränkt ist, haften den Sozialversicherungsträgern nach § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen bis zur Höhe des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs. Ob die Klägerin als Trägerin der Arbeitslosenversicherung zu den von dieser Norm erfassten Sozialversicherungsträgern zählt, war höchstrichterlich nicht geklärt. Im Schrifttum war die Frage umstritten.
Rz. 593
Die überwiegende Ansicht in der Literatur hielt die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen des § 110 Abs. 1 SGB VII nicht für anspruchsberechtigt. Zur Begründung wurde angeführt, bei ihr handele es sich nicht um einen Sozialversicherungsträger im Sinne dieser Vorschrift. Zudem leiste sie als Trägerin der Arbeitslosenversicherung nicht wegen des Arbeitsunfalls, sondern wegen der Arbeitslosigkeit des Versicherten. Die Gegenansicht hielt die Bundesagentur für Arbeit als Trägerin der Arbeitslosenversicherung für gemäß § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII anspruchsberechtigt. Das Argument, sie leiste nicht wegen des Versicherungsfalls, sondern wegen der Arbeitslosigkeit, sei aufgrund von § 58 SGB VII nicht schlüssig.
Rz. 594
Nach Auffassung des Senats ist die Klägerin jedenfalls deshalb nicht gemäß § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII anspruchsberechtigt, weil sie nicht Sozialversicherungsträger im Sinne dieser Vorschrift ist. Zwar führt deren Auslegung nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck zu keinem klaren Ergebnis. Die Entstehungsgeschichte legt aber das Verständnis nahe, dass der Begriff des Sozialversicherungsträgers im Sozialgesetzbuch und damit auch in § 110 Abs. 1 SGB VII in einem formellen engen, den Träger der Arbeitslosenversicherung nicht einschließenden Sinn gebraucht wird. Dies wird durch die systematische Auslegung bestätigt.
Rz. 595
Der Wortlaut des § 110 Abs. 1 SGB VII, der wie zuvor § 640 RVO in seinen Wirkungsbereich alle Träger der Sozialversicherung einbezieht (zu § 640 RVO vgl. Senatsurt. v. 10.12.1974 – VI ZR 73/73, BGHZ 63, 313, 317), ist für beide Deutungen offen. Der Begriff der Sozialversicherung kann in einem materiellen weiten Sinn, der die Arbeitslosenversicherung miteinbezieht, verstanden werden. In diesem Sinne wird die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Funktion als Trägerin der Arbeitslosenversicherung im Rahmen des § 117 Abs. 3 S. 2 VVG, nach dem ein gegenüber seinem Versicherungsnehmer leistungsfreier Pflichthaftpflichtversicherer auch gegenüber dem geschädigten Dritten leistungsfrei ist, wenn dieser Ersatz seines Schadens von einem Sozialversicherungsträger erlangen kann, als Sozialversicherungsträger angesehen. Der Begriff der Sozialversicherung kann jedoch auch in einem formellen engen Sinn gedeutet werden, der – neben der erst nachträglich geschaffenen Pflegeversicherung – nur die vier zunächst in der Reichsversicherungsordnung geregelten "klassischen" Versicherungszweige (Krankheit, Alter, Invalidität und Unfall) umfasst. Gerade weil der Begriff der Sozialversicherung häufig in diesem beschränkten, engen Sinne verstanden wird, spricht das Grundgesetz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 von der "Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung". Damit wird dem besonders naheliegenden Missverständnis vorgebeugt, in der Ko...