Rz. 613
BGH, Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 197/22 – juris
a) Der Fall
Rz. 614
Das klagende Land (im Folgenden: der Kläger) machte gegen den Beklagten, den von den Kfz-Haftpflichtversicherern gegründeten Verkehrsopferhilfeverein zur Wahrnehmung der Aufgaben des in § 12 PflVG genannten "Entschädigungsfonds für Schäden aus Kraftfahrzeugunfällen", im Rahmen einer Feststellungsklage Ersatzansprüche aus gemäß § 5 Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. § 81a Bundesversorgungsgesetz (BVG) übergegangenem Recht der Opfer und Hinterbliebenen einer Amokfahrt geltend. Am 7.4.2018 fuhr A. mit einem Kleinbus vorsätzlich auf die Außenterrassen eines in der Innenstadt der Stadt M. gelegenen Restaurants. Er tötete dabei vier Menschen, verletzte weitere zwanzig Personen teilweise schwer und beging anschließend Suizid. Der Haftpflichtversicherer des Fahrzeugs lehnte gemäß § 103 VVG seine Einstandspflicht wegen der vorsätzlichen Begehung der Tat ab.
Rz. 615
In § 1 Abs. 11 OEG in der zum Zeitpunkt der Amokfahrt und bis zum 30.6.2018 gültigen Fassung des Gesetzes (im Folgenden OEG a.F.) war geregelt, dass das Opferentschädigungsgesetz nicht auf Schäden aus einem tätlichen Angriff anzuwenden ist, die von dem Angreifer durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs verursacht worden sind. Diese – ab 1.7.2018 in § 1 Abs. 8 OEG verortete – Vorschrift wurde mit Wirkung ab 10.6.2021 durch eine Regelung ersetzt, wonach Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz auch im Falle eines durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeuges verübten tätlichen Angriffs erbracht werden. § 1 Abs. 12 OEG a.F. (ab 1.7.2018: § 1 Abs. 9 OEG) sah vor, dass unter anderem die in § 89 BVG getroffene Regelung zur Gewährung eines Ausgleichs in Härtefällen mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist.
Rz. 616
Mit Erlass v. 16.4.2018 teilte das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Klägers den örtlichen Landschaftsverbänden u.a. Folgendes mit:
Zitat
"Hiermit stimme ich gem. § 1 Abs. 12 Opferentschädigungsgesetz (OEG) dem Grunde nach zu, den Opfern und Hinterbliebenen der Amokfahrt am 7.4.2018 in M[...] Versorgung in Anwendung des OEG zu gewähren. Eine Nichtanwendung des OEG erachte ich in der Gesamtschau als eine für die Betroffenen unbillige Härte".
Rz. 617
In der Folgezeit erließ der Kläger durch die örtlichen Landschaftsverbände im Zeitraum vom 19.6.2019 bis zum 25.8.2020 auf der Grundlage des Opferentschädigungsgesetzes in seiner in der Zeit vom 25.7.2017 bis zum 30.6.2018 gültigen Fassung in 45 Fällen Bescheide, mit denen den Opfern und Hinterbliebenen Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz gewährt wurden und erbrachte auf der Grundlage dieser Bescheide bis zum Zeitpunkt der Klageerhebung Leistungen (z.B. als "Versorgungsbezüge" bezeichnete Rentenzahlungen, Bestattungsgelder) in Höhe von insgesamt 332.001,60 EUR.
Rz. 618
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat auf die Berufung des Klägers das landgerichtliche Urteil abgeändert und festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die von ihm auf der Grundlage bestandskräftiger Bescheide an die Opfer der Tat vom 7.4.2018 und deren Hinterbliebenen erbrachten und noch zu erbringenden Leistungen insoweit zu ersetzen, als der Beklagte im Falle seiner Inanspruchnahme durch die Opfer und deren Hinterbliebenen in zeitlicher und sachlicher Hinsicht diesen gegenüber selbst zur Erbringung gleicher Leistungen verpflichtet gewesen wäre und soweit dem Kläger diese nicht von Dritten erstattet werden. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebte der Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 619
Der BGH hat das Berufungsurteil (OLG Hamm, Urt. v. 23.9.2022 – 11 U 192/21 – juris) auf die Revision des Beklagten aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des LG zurückgewiesen.
Rz. 620
Die Gewährung der Härtefallleistungen kann jedenfalls deshalb nicht zu einem Übergang von Ansprüchen der Leistungsempfänger gegen den Beklagten auf den Kläger nach § 5 OEG i.V.m. § 81a BVG führen, weil der Entschädigungsfonds (vgl. § 12 Abs. 1 S. 1 PflVG) für durch derartige Leistungen abgedeckte Schäden aufgrund der Subsidiaritätsregel des § 12 Abs. 1 S. 3 PflVG den Geschädigten gegenüber nicht haftet.
Rz. 621
Soweit den nach dem Opferentschädigungsgesetz Versorgungsberechtigten ein gesetzlicher Schadensersatzanspruch gegen Dritte zusteht, geht dieser Anspruch gemäß § 5 OEG i.V.m. § 81a BVG auf das zur Gewährung der Leistungen verpflichtete Land über. Der gesetzliche Forderungsübergang bezieht sich auf die Leistungen, die mit dem vom Dritten zu leistenden Schadensersatz zeitlich und sachlich deckun...