Rz. 293
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hielt einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Revision wandte sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche der Versicherten wegen vermehrter Bedürfnisse aus § 843 Abs. 1 Fall 2 BGB hätten frühestens am 1.1.1995 auf die bei der AOK S. bestehende Pflegekasse oder einen anderen Sozialversicherungsträger übergehen können mit der Folge, dass diese Ansprüche von dem zwischen der Versicherten und der Beklagten geschlossenen Abfindungsvergleich vom 25./31.12.1991 erfasst worden und nach §§ 779, 362 BGB erloschen seien.
Rz. 294
Die Erwägungen des Berufungsgerichts erwiesen sich im Ausgangspunkt allerdings als zutreffend.
Rz. 295
Das Berufungsgericht hatte zu Recht angenommen, dass sich der Übergang von Schadensersatzansprüchen sowohl nach § 116 Abs. 1 SGB X als auch nach dem gemäß § 120 Abs. 1 S. 1 SGB X auf Schadensereignisse vor dem 30.6.1983 anwendbaren § 1542 RVO grundsätzlich schon im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses vollzieht, soweit der Sozialversicherungsträger dem Geschädigten möglicherweise in Zukunft Leistungen zu erbringen hat, die sachlich und zeitlich mit den Erstattungsansprüchen des Geschädigten kongruent sind. Dabei reicht selbst eine weit entfernte Möglichkeit des Eintritts solcher Tatsachen aus, aufgrund derer Versicherungsleistungen zu erbringen sein werden; es darf die Entstehung solcher Leistungspflichten nur nicht völlig unwahrscheinlich, also geradezu ausgeschlossen sein. Dieser frühe Zeitpunkt ist für den Forderungsübergang auch wegen solcher Leistungen maßgebend, deren inhaltliche Ausgestaltung durch Veränderungen im Leistungsgefüge erst später erfolgt, soweit eine als Grundlage für den Forderungsübergang geeignete Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers gegenüber dem Geschädigten überhaupt in Betracht kommt.
Rz. 296
Wie das Berufungsgericht weiter zutreffend angenommen hatte, erfährt dieser Grundsatz allerdings eine Ausnahme in den Fällen, in denen neue Leistungsberechtigungen erst nach dem Schadensereignis aufgrund sog. "Systemänderungen" geschaffen werden. Insoweit findet ein Forderungsübergang erst mit Inkrafttreten der Neuregelung statt. Eine Systemänderung in diesem Sinne liegt vor, wenn eine Leistungspflicht des Versicherungsträgers begründet wird, für die es bisher an einer gesetzlichen Grundlage gefehlt hat, wenn also eine gesetzliche Neuregelung eine Anspruchsberechtigung, die im bisherigen Leistungssystem noch überhaupt nicht enthalten war, neu schafft. Entscheidend ist, ob einem Sozialversicherungsträger infolge einer Systemänderung ganz neue Leistungspflichten auferlegt worden sind, die nach der bisherigen gesetzlichen Regelung überhaupt nicht bestanden. Von einer solchen Systemänderung sind Gesetzesänderungen zu unterscheiden, die nur eine Erhöhung oder Modifizierung bereits gegebener Ansprüche regeln oder sich als Fortentwicklung von im Kern bereits angelegten sozialversicherungsrechtlichen Leistungen darstellen.
Rz. 297
Eine Systemänderung hat der erkennende Senat beispielsweise für den mit dem Gesundheitsreform-Gesetz vom 20.12.1988 (BGBl I 1988 S. 2477) mit Wirkung zum 1.1.1989 eingeführten Anspruch auf häusliche Pflegehilfe nach §§ 53 ff. SGB V a.F. angenommen. Maßgeblich hierfür war, dass die Neuregelung erstmals einen Anspruch auf Pflegeleistungen gewährte, der vom Vorliegen einer Krankheit unabhängig war und allein die Pflegebedürftigkeit voraussetzte. Zuvor war Pflegehilfe nur im Rahmen einer häuslichen Krankenpflege gewährt worden, die eine behandlungsfähige und behandlungsbedürftige Krankheit voraussetzte. Mit der Gesetzesänderung war mithin eine im bisherigen Leistungssystem neue und neuartige Leistungspflicht geschaffen worden.
Rz. 298
Eine Systemänderung hat der erkennende Senat dagegen verneint für den durch Art. 1 des Pflege-Versicherungsgesetzes vom 26.5.1994 (PflegeVG; BGBl I S. 1014) geschaffenen Anspruch auf Bewilligung eines Pflegegeldes gemäß § 37 SGB XI, soweit bereits nach §§ 53 ff. SGB V a.F. leistungsberechtigte Schwerpflegebedürftige betroffen waren (Senatsurt. v. 3.12.2002 – VI ZR 142/02, a.a.O.). Jedenfalls insoweit seien die durch das Gesundheitsreform-Gesetz vom 20.12.1988 begründeten Ansprüche nämlich lediglich fortgeführt und modifiziert worden.
Rz. 299
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche der Versicherten I. wegen vermehrter Bedürfnisse nach dem Vortrag der Klägerin, der der revisionsrechtlichen Überprüfung mangels gegenteiliger Feststellungen zugrunde zu legen ist, mit dem Inkrafttreten des Gesundheitsreform-Gesetzes vom 20.12.1988 am 1.1.1989 auf die AOK L., am 1.1.1994 auf die AOK S., am 1.4.1995 auf die Pflegekasse bei der AOK S. und im Verlauf des Revisionsverfahrens auf die Klägerin übergegangen.
Rz. 300
Da bis zur Einführung des Anspruchs auf häusliche Pflegehilfe nach §§ 53 ff. SGB V a.F. keine vom Vorliegen einer Krankheit unabhängige Leistungspflicht ...