Rz. 288
BGH, Urt. v. 12.4.2011 – VI ZR 158/10, VersR 2011, 775
Zitat
SGB X § 116; SGB XI §§ 36 ff.; BGB § 843
a) |
Der Übergang von Schadensersatzansprüchen nach § 1542 RVO, § 116 Abs. 1 SGB X vollzieht sich grundsätzlich schon im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses, soweit der Sozialversicherungsträger dem Geschädigten möglicherweise in Zukunft Leistungen zu erbringen hat, die sachlich und zeitlich mit den Erstattungsansprüchen des Geschädigten kongruent sind. |
b) |
Dieser Grundsatz erfährt eine Ausnahme in den Fällen, in denen neue Leistungsberechtigungen erst nach dem Schadensereignis aufgrund sogenannter "Systemänderungen" geschaffen werden. |
c) |
Die Neuregelung des Anspruchs auf häusliche Pflegehilfe in §§ 36 ff. SGB XI bedeutet keine Systemänderung, sondern lediglich eine Modifizierung der bereits seit 1989 in §§ 53 ff. SGB V a.F. vorgesehenen Pflegeleistungen (Fortentwicklung der Senatsurt. v. 18.2.1997 – VI ZR 70/96, BGHZ 134, 381, 386 und v. 3.12.2002 – VI ZR 142/02, VersR 2003, 267). |
I. Der Fall
Rz. 289
Die Klägerin, eine Trägerin der gesetzlichen Pflegeversicherung, nahm die beklagte Stadt aus übergegangenem Recht ihrer Versicherten I. auf Schadensersatz wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung in Anspruch.
Rz. 290
Die Versicherte erlitt bei ihrer Geburt am 22.3.1981 im Städtischen Krankenhaus G., dessen Trägerin die Beklagte war, infolge eines ärztlichen Behandlungsfehlers einen irreversiblen Hirnschaden. Am 25./31.12.1991 schlossen die Versicherte und die Beklagte einen Vergleich, in dem sich die Beklagte zur Zahlung von 626.000 DM verpflichtete. Mit der Zahlung sollten alle Ansprüche der Versicherten aus Anlass ihrer Geburt abgegolten sein. Im Dezember 1992 verpflichtete sich die Beklagte gegenüber der AOK L., bei der I. gesetzlich krankenversichert war, deren künftige Aufwendungen, soweit sie schadensbedingt und übergangsfähig sind, zu 70 % zu erstatten. Am 1.1.1994 ging die AOK L. durch Vereinigung gemäß § 145 SGB V in der AOK S. (inzwischen AOK N.), bei der die klagende Pflegekasse besteht, auf. Von August 2006 an gewährte die bei der AOK S. bestehende Pflegekasse ihrer Versicherten nach § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 SGB XI Pflegegeld gemäß Pflegestufe I.
Rz. 291
Mit der Behauptung, die von der Pflegekasse bei der AOK S. erbrachten Leistungen seien auf den ärztlichen Behandlungsfehler bei der Geburt ihrer Versicherten zurückzuführen, verlangte die Klägerin von der Beklagten die Erstattung von 70 % des in der Zeit von August 2006 bis einschließlich Dezember 2009 an I. gezahlten Pflegegeldes. Ferner begehrte sie die Feststellung, dass die Beklagte aufgrund des zwischen dieser und der AOK L. geschlossenen Vergleichs verpflichtet sei, ihr alle infolge des Behandlungsfehlers vom 22.3.1981 zum Nachteil ihrer Versicherten noch entstehenden Aufwendungen zu 70 % zu ersetzen.
Rz. 292
Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
II. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 293
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hielt einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Revision wandte sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche der Versicherten wegen vermehrter Bedürfnisse aus § 843 Abs. 1 Fall 2 BGB hätten frühestens am 1.1.1995 auf die bei der AOK S. bestehende Pflegekasse oder einen anderen Sozialversicherungsträger übergehen können mit der Folge, dass diese Ansprüche von dem zwischen der Versicherten und der Beklagten geschlossenen Abfindungsvergleich vom 25./31.12.1991 erfasst worden und nach §§ 779, 362 BGB erloschen seien.
Rz. 294
Die Erwägungen des Berufungsgerichts erwiesen sich im Ausgangspunkt allerdings als zutreffend.
Rz. 295
Das Berufungsgericht hatte zu Recht angenommen, dass sich der Übergang von Schadensersatzansprüchen sowohl nach § 116 Abs. 1 SGB X als auch nach dem gemäß § 120 Abs. 1 S. 1 SGB X auf Schadensereignisse vor dem 30.6.1983 anwendbaren § 1542 RVO grundsätzlich schon im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses vollzieht, soweit der Sozialversicherungsträger dem Geschädigten möglicherweise in Zukunft Leistungen zu erbringen hat, die sachlich und zeitlich mit den Erstattungsansprüchen des Geschädigten kongruent sind. Dabei reicht selbst eine weit entfernte Möglichkeit des Eintritts solcher Tatsachen aus, aufgrund derer Versicherungsleistungen zu erbringen sein werden; es darf die Entstehung solcher Leistungspflichten nur nicht völlig unwahrscheinlich, also geradezu ausgeschlossen sein. Dieser frühe Zeitpunkt ist für den Forderungsübergang auch wegen solcher Leistungen maßgebend, deren inhaltliche Ausgestaltung durch Veränderungen im Leistungsgefüge erst später erfolgt, soweit eine als Grundlage für den Forderungsübergang geeignete Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers gegenüber dem Geschädigten überhaupt in Betracht kommt.
Rz. 296
Wie das Berufungsgericht weiter zutreffend angenommen hatte, erfährt dieser Grundsatz allerdings eine Ausnahme in den Fällen, in denen neu...