Rz. 89
Im "Arbeitsrecht 4.0" löst sich die klassische Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung, geprägt durch einen Arbeitgeber, der dem persönlich abhängigen Arbeitnehmer Weisungen erteilt, häufig auf. Triebfelder sind flache bis hin zu komplett aufgelösten Hierarchien, die häufig unter dem Etikett des "agilen Arbeitens" erfasst werden. Geläufigstes Beispiel für derlei moderne Organisationsformen ist Scrum. Daneben verändern unternehmensübergreifende Matrixstrukturen, in denen Arbeitnehmer unterschiedlicher Arbeitgeber organisiert sind, das klassische Verständnis vom Arbeitgeber.
Beide Konstellationen schaffen auch aus dem Blickwinkel der Arbeitsvertragsgestaltung Regelungsbedarf:
1. Agiles Arbeiten – Verzicht auf Weisungsrecht
Rz. 90
Aus Sicht der Arbeitsvertragsgestaltung stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit der Arbeitgeber auf sein Weisungsrecht gemäß § 106 GewO verzichtet.
a) Musterklausel
Rz. 91
Muster 4.11: Weisungsrecht/Agiles Arbeiten
Muster 4.11: Weisungsrecht/Agiles Arbeiten
Die Arbeit in agilen Arbeitsgruppen erfolgt soweit als möglich frei von fachlichen Weisungen der Arbeitgeberin. Das disziplinarische Weisungsrecht gemäß § 106 GewO bleibt hiervon unberührt. Im Übrigen behält sich die Arbeitgeberin vor, bei Bedarf jederzeit auch fachliche Weisungen gemäß § 106 GewO zu erteilen.
b) Grundlagen
Rz. 92
Agile Arbeitsorganisationen in Reinform lösen sämtliche Hierarchieebenen unterhalb des gesetzlichen Vertretungsorgans auf. Berichtslinien entfallen, es werden funktionsübergreifende Teams gebildet, die nach den jeweiligen Anforderungen der zu erledigenden Aufgaben und Projekte zusammengesetzt werden. Die Aufgaben werden in den Teams eigenverantwortlich erledigt. Die Rolle des Vorgesetzten wandelt sich hierbei zu der eines Moderators; das Delegieren und Kontrollieren – insoweit Gegenstand des fachlichen Weisungsrechts des Arbeitgebers – tritt in den Hintergrund. Hierbei bringt es die Praxis mit sich, dass klassische Organisationsformen mit agilen kombiniert werden. Je nach Aufgabenstellung können Arbeitnehmer also zwischen weithin weisungsfreiem Arbeiten im agilen Team und Arbeiten in einer klassischen Weisungsstruktur wechseln.
Rz. 93
Für die Arbeitsvertragsgestaltung ergeben sich hieraus zwei Prämissen: Zunächst ist zwischen fachlichem und disziplinarischem Weisungsrecht zu unterscheiden. Fachliche Weisungen betreffen die Art und Weise der Arbeitsleistung einschließlich der Delegation von Aufgaben und der Kontrolle der Arbeitsergebnisse; disziplinarische Weisungen umfassen hingegen die klassischen Disziplinarbefugnisse (insbesondere Kündigung/Abmahnung) sowie die Ausübung solcher Rechte, die in der Gläubigerstellung des Arbeitgebers wurzeln. Das betrifft etwa die Erteilung von Erholungsurlaub, Entgeltfragen, Beurteilungen oder die Personalentwicklung. Schon aus Compliance Gründen kann bei agilen Arbeitsformen nur auf das fachliche, nicht auf das disziplinarische Weisungsrecht "verzichtet" werden. Des Weiteren macht es aus Sicht des Arbeitgebers wenig Sinn, generell und abschließend auf das fachliche Weisungsrecht zu verzichten. Zum einen ist daran zu denken, dass ein Arbeitnehmer beispielsweise nach einem in agiler Arbeitsgruppe bearbeiteten Projekt wieder in einen klassisch organisierten Bereich wechseln muss. Zum anderen ist auch bei agilen Arbeitsformen nicht auszuschließen, dass es im "worst case" fachlicher Weisungen bedarf.
c) Hinweise zur Vertragsgestaltung
Rz. 94
Die Musterklausel greift die vorstehend genannten Prämissen auf. Zwar kann das Weisungsrecht arbeitsvertraglich abbedungen werden. Rechtlich ist es also denkbar, dass der Arbeitgeber arbeitsvertraglich auf sein Weisungsrecht verzichtet. Ein solcher Verzicht könnte dann nur durch eine vertragliche Abrede wieder rückgängig gemacht werden. Ein solcher Verzicht dürfte der Interessenlage aber kaum gerecht werden. Vor diesem Hintergrund dürfte es sich regelmäßig empfehlen, im Arbeitsvertrag keinerlei Regelung zum Weisungsrecht zu treffen und es in der Praxis schlicht nicht auszuüben. Verlangt ein Arbeitnehmer aber dennoch eine Formulierung, sollte wie in der Musterklausel darauf geachtet werden, dass kein abschließender Verzicht erklärt wird.
Darüber hinaus unterscheidet die Musterklausel angesichts der geschilderten Problematik zwischen fachlichem und disziplinarischem Weisungsrecht.
2. Matrixklauseln
Rz. 95
Aus arbeitsrechtlicher Sicht stehen insbesondere solche Matrixstrukturen zur Diskussion, die sich im Konzern über Unternehmensgrenzen hinweg erstrecken. Unter Matrixstrukturen sind Organisationsformen zu verstehen, die nach Funktionen (z.B. Entwicklung, Marketing, Sales, HR), Produkten und Regionen gegliedert sind. Die hieraus entstehenden Einheiten werden von einem Matrixmanager gesteuert, der seinerseits ohne Rücksicht auf gesellschaftsrechtliche Strukturen gegenüber...