§ 4 Außergerichtliche Tätigkeiten / 11. Die "Rückwärts-Anrechnung" der Geschäftsgebühr

Rz. 40

In Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG heißt es: "Soweit wegen desselben Gegenstands eine Geschäftsgebühr nach Teil 2 entsteht, wird diese Gebühr zur Hälfte, bei Wertgebühren jedoch höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75, auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet." Damit bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr auch dann erfolgen soll, wenn die Geschäftsgebühr erst nach einem gerichtlichen Verfahren entsteht.

Bisher galt der Grundsatz, dass immer eine früher entstandene Gebühr auf eine später entstandene Gebühr angerechnet werden muss. Für den Fall der Geschäftsgebühr wird dieser Grundsatz durch das Wort "entsteht" durchbrochen. Das bedeutet, dass auch eine erst später – also nach einem gerichtlichen Verfahren – entstehende Geschäftsgebühr auf die bereits zuvor entstandene Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet werden muss; deshalb heißt es in solchen Fällen, dass "rückwärts" angerechnet werden muss. Man nennt dies Rückwärtsanrechnung. Sehen Sie hierzu nachstehendes Beispiel.

Beispiel:

RA Fleißig hat für seinen Auftraggeber eine Kaufpreisforderung von 2.500,00 EUR im Mahnverfahren geltend gemacht. RA Fleißig beantragt nach Ablauf der Widerspruchsfrist den Erlass des Vollstreckungsbescheids bei Gericht. Der Schuldner hat weder Widerspruch noch Einspruch eingelegt. RA Fleißig hat Anspruch auf die folgende Vergütung:

Gegenstandswert: 2.500,00 EUR

1,0	Verfahrensgebühr im Mahnverfahren gem. §§ 2, 13 RVG, Nr. 3305 VV RVG	222,00 EUR
0,5	Vollstreckungsbescheidsgebühr gem. §§ 2, 13 RVG, Nr. 3308 VV RVG	111,00 EUR
20 %	Pauschale für Post- und Telekommunikationsentgelte (für Mahnverfahren) gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RVG, Nr. 7002 VV RVG	20,00 EUR
		353,00 EUR
19 %	USt. gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RVG, Nr. 7008 VV RVG	67,07 EUR
		420,07 EUR

Nach Zustellung des Vollstreckungsbescheids wendet sich der Schuldner unaufgefordert an RA Fleißig und bittet um Vereinbarung von Ratenzahlungen. Der Gläubiger beauftragt nun RA Fleißig, die Ratenzahlungsvereinbarung mit dem Schuldner abzuschließen. RA Fleißig hat noch keinen Auftrag zur Zwangsvollstreckung – deshalb entsteht eine Geschäftsgebühr erst nach dem Mahnverfahren. Es handelt sich hierbei um Inkassotätigkeit für eine titulierte Forderung, die der Schuldner nicht durch einen Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid bestritten hat. Die Vereinbarung wird in einer längeren Besprechung mit dem Schuldner aufgesetzt.

Wenn die Vergütung für das Mahnverfahren noch nicht mit dem Auftraggeber abgerechnet wurde, dann sieht die Gebührenberechnung jetzt so aus:

I. Vergütungsrechnung für Tätigkeit im Mahnverfahren

Gegenstandswert: 2.500,00 EUR

1,0	Verfahrensgebühr im Mahnverfahren gem. §§ 2, 13 RVG, Nr. 3305 VV RVG	222,00 EUR
	darauf ist gemäß der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG anzurechnen:
0,45	Geschäftsgebühr gem. §§ 2, 13 RVG, 14, Nr. 2300 Anm. Abs. 2 S. 1 VV RVG (Wert: 1.250,00 EUR) *	– 57,15 EUR	164,85 EUR
0,5	Vollstreckungsbescheidsgebühr gem. §§ 2, 13 RVG, Nr. 3308 VV RVG		111,00 EUR
20 %	Pauschale für Post- und Telekommunikationsentgelte (für Mahnverfahren) gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RVG, Nr. 7002 VV RVG		20,00 EUR
			295,85 EUR
19 %	USt. gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RVG, Nr. 7008 VV RVG		56,21 EUR
			352,06 EUR

*	Die Geschäftsgebühr ist erst später entstanden, daher wird "rückwärts" angerechnet.

II. Vergütungsrechnung für außergerichtliche Ratenvereinbarung

Gegenstandswert: 2.500,00 EUR / 1.250,00 EUR gem. § 31b RVG **

0,9	Geschäftsgebühr gem. §§ 2, 13, 14 RVG, Nr. 2300 Anm. Abs. 2 S. 1 VV RVG* (Wert: 2.500,00 EUR)	199,80 EUR
0,7	Einigungsgebühr gem. §§ 2, 13 RVG, Nr. 1000 Ziff. 2 VV RVG (Wert: 1.250,00 EUR) **	88,90 EUR
20 %	Pauschale für Post- und Telekommunikationsentgelte (für außergerichtlichen Auftrag) gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RVG, Nr. 7002 VV RVG	20,00 EUR
		308,70 EUR
19 %	USt. gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RVG, Nr. 7008 VV RVG	58,65 EUR
		367,35 EUR

*	0,9 Geschäftsgebühr wegen der längeren Besprechung mit dem Schuldner, wobei keine überdurchschnittlichen Umstände vorliegen (siehe Rdn 60 ff.).
**	Zur Wertberechnung nach § 31b RVG siehe § 2 Rdn 166 ff., 182 f. und § 3 Rdn 110 f.

Rz. 41

Hinweis:

Die "Rückwärts-Anrechnung" der Geschäftsgebühr kann ferner z. B. in folgenden Fällen vorkommen: nach selbstständigem Beweisverfahren wird außergerichtlich verhandelt, nach Entstehen einer 0,8 Verfahrensgebühr (Nr. 3101 Ziff. 1 VV RVG) wird außergerichtlich verhandelt, nach Anerkenntnisurteil wird über eine Ratenzahlungsvereinbarung verhandelt.