Rz. 171
Nachbarn im Sinne der Landesbauordnungen sind die Miteigentümer und nicht die Gemeinschaft. Nachbarbezogene Zustellungen (z.B. die Nachbaranhörung oder die Genehmigung des nachbarlichen Bauvorhabens) sind deshalb (zumindest auch) an die Miteigentümer zu richten. Anders als nach dem alten Recht ist der Verwalter insoweit nicht zur Entgegennahme von Erklärungen und Zustellungen berechtigt, weil er nur die Gemeinschaft, nicht aber die einzelnen Miteigentümer vertritt → § 10 Rdn 305). Soweit in einer Landesbauordnung etwas anderes steht, ist die Regelung m.E. wegen des Vorrangs des WEG als Bundesgesetz unwirksam. Für Bauherren und Baurechtsämter schlummert hier eine vielfach unerkannte, aber unerhört große Gefahr (und umgekehrt eine Chance unzufriedener Nachbarn): Nachbar-Baugenehmigungen werden häufig weiterhin dem Verwalter zugestellt; die Zustellung ist aber gegenüber den Wohnungseigentümern unwirksam mit der Folge, dass für diese keine Rechtsmittelfristen zu laufen beginnen. Mithin kann die Baugenehmigung auch lange nach Baubeginn oder -fertigstellung noch angefochten werden!
Rz. 172
Die Gemeinschaft ist gem. § 9a WEG befugt, öffentlich-rechtliche Nachbaransprüche im Hinblick auf das Gemeinschaftseigentum geltend zu machen. Ob diese Ausübungsbefugnis ausschließlich ist (die einzelnen Sondereigentümer also "entrechtet" werden), ist streitig. Wenn sich ein Sondereigentümer von der Baumaßnahme auf dem Nachbargrundstück gestört fühlt, z.B. weil die Fenster seiner Wohnung dadurch verschattet werden, stellt sich die Frage, ob er allein (ohne Mitwirkung der Gemeinschaft) gegen die Baugenehmigung vorgehen kann. Nach allgemeinen öffentlich-rechtlichen Grundsätzen muss er dazu die Verletzung eigener subjektiver Rechte geltend machen. In diesem Zuge stellt sich die Frage, ob eine ausschließliche originäre Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Geltendmachung nachbarschützender Rechte besteht oder nicht. Im alten Recht konnte ein Sondereigentümer nach h.M. generell aus eigenem Recht die aus dem Gemeinschaftseigentum resultierenden Abwehransprüche geltend machen, solange sich die Gemeinschaft nicht damit befasst hatte. Da nach dem geltenden Recht (§ 9a WEG) nur noch die Gemeinschaft dazu berufen ist, Störungen des Gemeinschaftseigentums abzuwehren, besteht – wie es auch nach dem alten Recht teilweise vertreten wurde – eine individuelle Ausübungskompetenz nur dann, wenn die durch die Baugenehmigung verletzte Vorschrift nicht nur dem Schutz des Gemeinschaftseigentums, sondern – zumindest auch – dem Schutz des Sondereigentums dient, wie insbesondere bei der Verletzung von Abstandsflächenvorschriften. Insofern ist ein Gleichlauf mit der Geltendmachung zivilrechtlicher Abwehransprüche hergestellt, weil ein Wohnungseigentümer Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche gemäß § 1004 BGB dann geltend machen kann, wenn es um die Abwehr von Störungen im räumlichen Bereich seines Sondereigentums geht; dem steht nicht entgegen, dass zugleich das Gemeinschaftseigentum von den Störungen betroffen sein kann. Wird hingegen nur eine dem Schutz des Gemeinschaftseigentums dienende nachbarschützender Bestimmungen des öffentlichen Baurechts Vorschrift verletzt, kann nur die Gemeinschaft die Verletzung geltend machen. Die Gemeinschaft kann aber – wie auch bei innergemeinschaftlichen Abwehransprüchen – einzelne Wohnungseigentümer zur Geltendmachung der öffentlich-rechtlichen Abwehransprüche ermächtigen.
Rz. 173
Praxistipp
Oft stellt ein Baurechtsamt eine Angrenzerbenachrichtigung oder Baugenehmigung dem Verwalter als dem (vermeintlichen) Vertreter der Wohnungseigentümer zu. Was ist dem Verwalter in dieser Situation zu empfehlen? a) Wenn möglich: Die Annahme verweigern. b) Falls Einwurf in den Briefkasten oder elektronische Übersendung erfolgte: Das Baurechtsamt auf die fehlende Empfangszuständigkeit hinweisen und die Zustellung an die Wohnungseigentümer verlangen. c) Die Wohnungseigentümer informieren und dabei folgendes Vorgehen vorschlagen: "Wenn Sie Einwände gegen das Bauvorhaben haben, weil Ihre Wohnung davon nachteilig betroffen ist, bringen Sie die Einwände bitte in erster Linie selbst beim Baurechtsamt vor. Haben Sie Einwände, die die ganze Gemeinschaft und nicht nur Ihre Wohnung betreffen, teilen Sie mir diese bitte kurzfristig mit; ich werde die Einwände als Vertreter der Gemeinschaft vorbringen. Wenn Sie möchten, dass die Gemeinschaft sicherheitshalber auch die Ihre Wohnung betreffenden Einwände vorbringt, werde ich auch dieser Bitte nachkommen. Je nachdem, welche Rückmeldung mir gegeben wird, behalte ich mir die Hinzuziehung anwaltlicher Hilfe oder die Einberufung einer außerordentlichen Wohnungseigentümerversammlung vor." Die Kompetenz des Verwalters im Außenverhältnis ist gem. § 9b Abs. 1 S. 1 WEG gegeben, die Befugnis im Innenverhältnis gem. § 27 Abs. 1 Nr. 1 und/oder Nr. 2 WEG. Ob die öffentlich-rechtliche "Einwendungsbefugnis" der Gemeinschaft besteht, ist eine andere Frage, zu der sich das...