Rz. 170

Die Schutzbedürftigkeit eines Arbeitnehmers ist auch umso höher, je mehr Unterhaltspflichten dieser zu erfüllen hat. Maßgeblich sind gesetzliche familienrechtliche Unterhaltspflichten.[300] Familienrechtlich bestehende Unterhaltspflichten, die der Arbeitnehmer nicht erfüllt, sind in der Sozialauswahl zu berücksichtigen.[301] Ein gesetzeswidriges Verhalten soll keinen Einfluss auf die Sozialauswahl haben.[302]

Dabei kommt es auf den Umfang der gegen den Arbeitnehmer gerichteten unterhaltsrechtlichen Ansprüche, also die Anzahl der Unterhaltsberechtigen und die Höhe der Unterhaltsleistungen an, zu denen der Arbeitnehmer verpflichtet ist.[303] Als Unterhaltsleistungen sind insoweit auch beispielsweise die Betreuung der Kinder und die Pflege der pflegebedürftigen Verwandten zu berücksichtigen, die nicht nur finanziellen Aufwand bedeuten, sondern auch die zeitliche und örtliche Flexibilität und damit die Chancen auf dem Arbeitsmarkt einschränken.[304]

 

Rz. 171

Maßgeblich wird auf die Unterhaltspflichten abgestellt, die im Zeitpunkt der Kündigung bestanden haben,[305] da das Kriterium der Unterhaltspflichten auch zukünftige Auswirkungen der Kündigung auf die wirtschaftliche Lage des Arbeitsnehmers und derer berücksichtigen soll, die ihm gegenüber unterhaltsberechtigt sind. Daraus ergibt sich, dass fest absehbare Unterhaltspflichten auch zu berücksichtigen sind.[306]

 

Rz. 172

Umstritten ist der Umgang mit Doppelverdienst, wenn somit beide Ehe- oder Lebenspartner ein Einkommen erzielen. Auf keinen Fall darf – auch wenn der Ehepartner des Gekündigten selbst ein Einkommen erzielt – die Verpflichtung zur Gewährung von Familienunterhalt nach § 1360 BGB bei der Sozialauswahl außer Betracht bleiben.[307]

Ob und inwieweit der Doppelverdienst allenfalls bei der Bewertung der Unterhaltspflichten eine Rolle spielt, ist umstritten. Nach einer Ansicht mindere sich in dem Fall, in dem der Ehepartner des Gekündigten auch Einkommen erziele, die Unterhaltspflicht gegenüber diesem und den gemeinsamen Kindern. Die damit ggf. verbundene mittelbare Benachteiligung von Frauen, deren Ehemänner Arbeitseinkommen beziehen, sei gerechtfertigt, da die gesetzlich gebotene Berücksichtigung von Unterhaltslasten ihrerseits sachlich gerechtfertigt sei.[308]

 

Rz. 173

Nach zutreffender anderer Ansicht in der Literatur müsse die mittelbare Diskriminierung von erwerbstätigen Frauen auch unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG dem Arbeitgeber die Möglichkeit geben, Doppelverdienst bei der Sozialauswahl unberücksichtigt zu lassen. Andernfalls läge auch eine Benachteiligung der Ehe sowie den eingetragenen Lebenspartnerschaften gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften vor.[309] Das BAG hat die Frage der Rechtfertigung dieser aber auch von ihm ausdrücklich herausgearbeiteten Benachteiligungen nicht geprüft.[310]

[301] HaKo/Mestwerdt/Zimmermann, § 1 Teil F KSchG Rn 866.
[302] HaKo/Mestwerdt/Zimmermann, § 1 Teil F KSchG Rn 867.
[303] HK-ArbR/Schubert, § 1 KSchG Rn 570, KR/Griebeling/Rachor, § 1 Rn 737.
[304] Vgl. LAG Niedersachsen v. 16.8.2002 – 10 Sa 409/02, NZA-RR 2003, 578; KR/Griebeling/Rachor, § 1 Rn 737.
[306] ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 333; HK-ArbR/Schubert, § 1 KSchG Rn 569; ArbG Berlin v. 16.2.2005 – 9 Ca 27525/04, BeckRS 2005, 30803904.
[307] APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 722.
[308] Vgl. KR/Griebeling/Rachor, § 1 KSchG Rn 738a.
[309] APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 647.

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