Rz. 190
Bei gegenseitigen Erbverträgen, insbesondere bei Ehegattenerbverträgen und bei Erbverträgen eingetragener Lebenspartner, geben beide oder alle Vertragspartner Willenserklärungen auf den Todesfall ab. Für jeden von ihnen gelten die Vorschriften über die Erblasseranfechtung.
(1) Anfechtungserklärung
Rz. 191
Die Anfechtungserklärung ist gegenüber dem bzw. den anderen Vertragschließenden abzugeben, § 143 Abs. 2 BGB. Nach dem Tod eines Erblassers sind diejenigen Verfügungen, die zu seinen Gunsten angeordnet wurden, nicht mehr anfechtbar; sie sind gegenstandslos geworden. Hat der überlebende Erblasser oder haben die überlebenden Erblasser zugunsten dritter Personen Verfügungen getroffen, so müssen diese gegenüber dem Nachlassgericht des bereits verstorbenen Erblassers angefochten werden, § 2281 Abs. 2 BGB. Ficht der überlebende Erblasser als Dritter i.S.d. §§ 2279 Abs. 1, 2080 BGB Verfügungen des bereits verstorbenen Erblassers an, die zugunsten eines Dritten vorgenommen wurden, so ist die Anfechtungserklärung entweder gegenüber dem Nachlassgericht abzugeben, wenn es sich um Erbeinsetzungen und Testamentsvollstreckungsanordnungen handelt (§ 2181 Abs. 1, 3 BGB), oder gegenüber dem Beschwerten, wenn es sich um Vermächtnisse handelt (§ 143 Abs. 4 S. 1 BGB).
(2) Frist
Rz. 192
Die Anfechtungsfrist des § 2283 Abs. 1 BGB läuft für jeden anfechtungsberechtigten Erblasser gesondert. Für den Beginn des Fristenlaufs kommt es auf die Kenntnis des jeweiligen Erblassers an.
(3) Rechtswirkungen der erklärten Anfechtung
Rz. 193
Nach der allgemeinen Vorschrift des § 142 Abs. 1 BGB wird die angefochtene Verfügung von Anfang an nichtig. Beim gegenseitigen Erbvertrag (§ 2298 BGB) erfasst die damit eingetretene Nichtigkeit den gesamten Vertrag. § 2298 BGB enthält eine Vermutung für die Wechselbezüglichkeit vertraglicher Verfügungen in einem gegenseitigen Erbvertrag. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Erblasser sich gegenseitig oder dritte Personen vertraglich zu Erben eingesetzt oder andere vertraglich zulässige Anordnungen getroffen haben.
Diese Regelung des § 2298 BGB ist allerdings nicht zwingender Natur, die Erblasser können sie im Erbvertrag abbedingen; eine Nicht-Wechselbezüglichkeit kann sich auch durch Auslegung ergeben. Schadensersatzpflicht des Erblassers bei Selbstanfechtung: Ob der Erblasser bei Irrtumsanfechtung eines Erbvertrags einem Schadensersatzanspruch gem. § 122 BGB ausgesetzt ist, ist streitig.
Rz. 194
Hinweis
Der Berater sollte unbedingt klären, inwieweit Verfügungen wechselbezüglich sind und dies auch eindeutig im Erbvertrag formulieren.
(4) Ausschluss des Anfechtungsrechts
Rz. 195
Die Regeln über die Bestätigung eines anfechtbaren Erbvertrags gelten auch hier, wobei jeder Erblasser für sich allein seine anfechtbare Verfügung bestätigen kann.
Die Rechtsprechung hat die Möglichkeit der Anfechtung nach dem Tod des Erblassers beim gegenseitigen Erbvertrag dadurch erschwert, dass sie bei der Anwendung des § 2079 S. 2 BGB (Übergehen eines Pflichtteilsberechtigten) auf den hypothetischen Willen des vorverstorbenen Erblassers Rücksicht nimmt. Die Tendenz der Rechtsprechung zu restriktiver Handhabung des Anfechtungsrechts erklärt sich daraus, dass nach dem Tod eines Erblassers beim gegenseitigen Erbvertrag dessen erbvertragliche Anordnungen bereits wirksam geworden sind. Es besteht eine gewisse Vermutung dafür, dass es dem Willen des vorverstorbenen Erblassers nicht entsprochen hätte, wenn der Erbvertrag rückwirkend auf seinen Todesfall wieder entfiele. Würde eine solche rückwirkende Unwirksamkeit angenommen werden, so wäre der Erbe des vorverstorbenen Erblassers von Anfang an nicht Erbe geworden, auch nicht etwa Vorerbe; vielmehr wäre er Erbschaftsbesitzer gewesen. Wäre ihm die Anfechtbarkeit sogar bekannt gewesen oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben, so würde er als bösgläubiger Erbschaftsbesitzer nach verschärften Grundsätzen haften (§§ 2024, 932 Abs. 2, 142 Abs. 2 BGB).
(5) Beweislast für den Selbstanfechtungsverzicht
Rz. 196
BayObLG, Beschl. v. 20.12.2000:
Zitat
"Bei der Selbstanfechtung eines gemeinschaftlichen Testaments durch den überlebenden wieder verheirateten Ehegatten genügt zur Begründung des Anfechtungsausschlusses gem. § 2079 S. 2 BGB nicht die Heranziehung der Motive, die den anfechtenden Ehegatten zu der getroffenen Verfügung veranlasst haben; vielmehr müssen die vor, bei und nach der Testamentserrichtung erkennbaren Umstände die Folgerung zulassen, dass er bei Kenntnis der Wiederverheiratung die spätere Ehefrau enterbt hätte. Gibt es hierfür keine hinreichenden Anhaltspunkte, bleibt es bei der gesetzlichen Vermutung des § 2079 S. 1 BGB."
(6) Fall aus der Rechtsprechung: Kenntnis des Erblassers vom Anfechtungsgrund trotz Rechtsirrtums über die Bindungswirkung des Ehegattentestaments (bzw. eines Erbvertrags)
Rz. 197
OLG Frankfurt, Beschl. v. 1.7.1999:
Zitat
"Die einjährige Frist zur Anfechtung wechselbezüglicher Verfügungen in einem gemeinschaftlichen Testament wegen Übergehens der zweiten Ehefrau (§§ 2283 Abs. 2, S. 1 Alt. 2, 2079 BGB) beginnt auch dann im Zeitpunkt der neuen Eheschließung, wenn der Erblasser sich im Hinblick auf die Wiederverheiratung irrtüm...