Rz. 23
Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass bei einer Vielzahl der oben dargelegten Kardinalvorschriften der StVO bei bestimmten Unfallkonstellationen im Wege des Anscheinsbeweises ein schuldhafter Verstoß vermutet wird. Ein solcher Anscheinsbeweis liegt vor, wenn feststehende Tatsachen nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Erfolgseintritt hinweisen. Besteht über die einen Anscheinsbeweis begründenden Umstände Streit und bleibt das Unfallgeschehen insoweit unaufklärbar, greifen die Grundsätze eines Anscheinsbeweises dagegen nicht. Im Übrigen ist ein Anscheinsbeweis dann erschüttert, wenn Umstände bewiesen sind, die einen anderen als den typischen Geschehensablauf ernstlich als möglich erscheinen lassen. In diesem Fall muss die beweisbelastete Partei die Anspruchsvoraussetzungen "voll" beweisen.
Rz. 24
Muster 4.6: Erschütterung Anscheinsbeweis
Muster 4.6: Erschütterung Anscheinsbeweis
Vorliegend kann dahinstehen, ob tatsächlich der behauptete Anscheinsbeweis besteht, denn dieser wäre ohnehin erschüttert. Ein Anscheinsbeweis ist bereits dann erschüttert, wenn die auf Tatsachen gestützte ernsthafte Möglichkeit besteht, dass der Verkehrsunfall auf einem anderen atypischen Geschehensablauf beruht (BGH, Urt. v. 21.1.1986 – VI ZR 35/85 = zfs 1986, 195; Nugel NJW 2013, 193 m.w.N.). Dafür genügt es, dass durch bestimmte Tatsachen – z.B. belegt durch ein Sachverständigengutachten – ein Ablauf ebenfalls zumindest als möglich erachtet wird, ohne dass ein vollständiger "Gegenbeweis" geführt werden muss (OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.9.2016 – I 1 U 146 -15 – juris).
Rz. 25
Häufig kann bereits über den Hinweis zu diesem Anscheinsbeweis eine Regulierung der Haftpflichtversicherung erreicht werden. Im Prozess werden die meisten Fälle bei widerstreitenden Zeugenangaben bzw. unterschiedlichen Aussagen der beteiligten Fahrzeugführer über den Anscheinsbeweis gelöst. Diese Konstellationen zu kennen, ist daher von entscheidender Bedeutung für den Verkehrsjuristen. Da sich viele hiermit verbundene Grundsatzfragen wiederholen, kann nach der Erfahrung des Verfassers ein erheblicher Arbeitsaufwand erspart werden, wenn die wichtigsten Grundsätze zu diesen Konstellationen in Mustern erfasst werden. Die wichtigsten Muster zu den "100 zu 0"-Konstellationen werden im Folgenden dargestellt.
a) Auffahrunfall
Rz. 26
Fährt ein Verkehrsteilnehmer auf ein vor ihm befindliches Fahrzeug auf, wird im Wege des Anscheinsbeweises regelmäßig ein schuldhafter Verstoß des Auffahrenden gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO vermutet. Dies gilt auch bei dem grob fahrlässigen Auffahrvorgang eines Radfahrers auf einen Pkw. Voraussetzung hierfür ist aber zumindest ein achsparalleler Anstoß, um eine typische Auffahrsituation zu begründen. In diesem Fall haftet der Auffahrende regelmäßig alleine.
Rz. 27
Muster 4.7: Auffahrunfall und Anscheinsbeweis
Muster 4.7: Auffahrunfall und Anscheinsbeweis
Fährt jemand auf ein vor ihm befindliches Fahrzeug auf, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er entweder nicht den notwendigen Sicherheitsabstand eingehalten bzw. nicht die gebotene Sorgfalt bei der Beobachtung des vor ihm fahrenden Verkehrs beachtet hat, ggf. auch einfach zu schnell gefahren ist. Im Wege des Anscheinsbeweises wird ein schuldhafter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO (BGH, Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16 = NJW 2017, 117; BGH, Urt. v. 23.1.2007 – VI ZR 146/06 = MDR 2007, 717) im Falles des zu schnellen Fahrens auch gegen § 3 Abs. 1 StVO vermutet (OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.9.2005 – 10 U 203/04 = NZV 2006, 200; LG Berlin, Urt. v. 3.2.2003 – 58 S 248/02 = SP 2003, 158). Hinter dem überragenden Fehlverhalten des Auffahrenden tritt die Betriebsgefahr des davor befindlichen Fahrzeug im vollen Umfang zurück (OLG Köln, Urt. v. 29.6.2004 – 9 U 176/03 = SP 2004, 329; LG Duisburg, Urt. v. 10.4.2015 – 10 O 192/14 – juris; LG Wuppertal, Urt. v. 27.11.2012 – 2 O 398/10 = SP 2013, 251; LG Duisburg, Urt. v. 15.1.20145 – 5 S 97/13 – juris).
Rz. 28
Schwieriger wird die Beurteilung dieses Sachverhalts, wenn der auffahrende Fahrzeugführer sich damit verteidigt, dass der vordere Kraftfahrzeugführer kurz zuvor einen unachtsamen Fahrstreifenwechsel vorgenommen und dadurch den Unfall verursacht hätte. Wenn der Anstoß deshalb in einer Schrägstellung erfolgt ist, also kein achsparalleler Anstoß vorliegt, spricht der Anscheinsbeweis gegen den Fahrstreifenwechsler und dieser haftet im Zweifel alleine.
Rz. 29
Muster 4.8: Auffahrunfall und Fahrstreifenwechsel mit Schrägstellung
Muster 4.8: Auffahrunfall und Fahrstreifenwechsel mit Schrägstellung
Liegt kein achsparalleler Anstoß vor, sondern de...