Rz. 49
Ein klassischer "100 zu 0"-Fall liegt vor, wenn ein wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer die Vorfahrt eines insoweit berechtigten Fahrzeugführers verletzt. In diesem Fall wird im Wege des Anscheinsbeweises ein schuldhafter Verstoß des wartepflichtigen Fahrzeugführers gegen § 8 StVO vermutet, hinter dem grundsätzlich die Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs zurücktritt.
Rz. 50
Muster 4.18: Anscheinsbeweis bei Vorfahrtsverletzung
Muster 4.18: Anscheinsbeweis bei Vorfahrtsverletzung
Stoßen zwei Fahrzeuge auf einer Kreuzung bzw. einer Einmündung i.S.d. § 8 StVO zusammen, wird eine schuldhafte Vorfahrtsverletzung des Wartepflichtigen im Wege des Anscheinsbeweises vermutet (BGH, Urt. v. 18.11.1975 – VI ZR 172/74 = NJW 1976, 1317; OLG Hamm, Beschl. v. 16.12.2016 – I 11 U 170/15 – juris; OLG Celle, Urt. v. 20.10.2010 –14 U 47/10 – juris; OLG Köln, Urt. v. 14.2.2002 – 12 U 142/01 = SP 2002, 263; OLG Köln, Urt. v. 9.4.2002 – 3 U 166/01 = VersR 2002, 998). Hinter diesem Fehlverhalten tritt die einfache Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs im vollen Umfang zurück (OLG Hamm, Urt. v. 8.5.2001 – 27 U 201/00 =DAR 2001, 506).
Rz. 51
Häufig verteidigt sich der wartepflichtige Verkehrsteilnehmer mit dem Argument, er habe bereits den unmittelbaren Kreuzungsbereich verlassen und es wäre ein typischer Auffahrunfall im gleichgerichteten Verkehr erfolgt. Solange aber ein zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit der Einfahrt in die vorfahrtsberechtigte Straße besteht, greift der Anscheinsbeweis zu Lasten des Einbiegenden jedoch weiter bis zu dem Zeitpunkt ein, zu dem dieser sich vollständig in die vorfahrtsberechtigte Straße mit der dort vorherrschenden Geschwindigkeit des fließenden Verkehr eingegliedert hat. In der Hamburger Rechtsprechung wird hierzu i.d.R. auf eine Wegstrecke von 30m abgestellt, die der wartepflichtige Fahrzeugführer in der Vorfahrtsstraße zurückzulegen hat.
Rz. 52
Will der Wartepflichtige den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis erschüttern, hat er zu beweisen, dass zum Zeitpunkt seines Einfahrentschlusses das vorfahrtsberechtigte Fahrzeug noch nicht erkennbar gewesen ist. In diesen Fallkonstellationen steht zumindest eine Mithaftung des vorfahrtsberechtigten Fahrzeugführers wegen einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Raum, die sich allerdings auch unfallursächlich ausgewirkt haben muss. Hierzu gilt: Ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem behaupteten Fehlverhalten in Form der zu schnellen Geschwindigkeit ist nur dann gegeben, wenn der Unfall bei Beachtung der Verkehrsvorschriften durch den betroffenen Fahrzeugführer zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation vermeidbar gewesen wäre. Ein Geschwindigkeitsverstoß ist für den Schaden aber auch dann kausal – und bei der Haftungsabwägung nach § 17 StVG zu gewichten – wenn der Unfall bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit zwar nicht vermieden worden, die Unfallfolgen aber wesentlich geringer ausgefallen wären.
Der Anteil seiner Haftung orientiert sich in diesem Fall daran, um wie viel Prozent er die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat, wobei eine geringfügige Überschreitung von bis zu 10 % in der Regel noch keine Mithaftung begründet.
Rz. 53
Eine weitere besondere Unfallsituation liegt vor, wenn der Vorfahrtsberechtigte seinerseits gegen das Rechtsfahrgebot verstößt. Zu seinen Gunsten ist dabei allerdings zu berücksichtigen, dass die Vorschrift des § 2 Abs. 2 StVO grundsätzlich nur den gleichgerichteten Verkehr schützt und sich das Vorfahrtsrecht auf die gesamte Fahrbahnbreite erstreckt.
Rz. 54
Muster 4.19: Vorfahrtsverletzung und Rechtsfahrgebot
Muster 4.19: Vorfahrtsverletzung und Rechtsfahrgebot
Auch in der hier vorliegenden Konstellation ist von einer Vorfahrtsverletzung auszugehen. Stoßen zwei Fahrzeuge auf einer Kreuzung bzw. einer Einmündung i.S.d. § 8 StVO zusammen, wird eine schuldhafte Vorfahrtsverletzung des Wartepflichtigen im Wege des Anscheinsbeweises vermutet (BGH, Urt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10 = zfs 2012, 76; OLG Köln, Urt. v. 14.2.2002 – 12 U 142/01 = SP 2002, 263; OLG Hamm, Urt. v. 8.5.2001 – 27 U 201/00 = DAR 2001, 506; OLG Köln, Urt. v. 9.4.2002 – 3 U 166/01 = VersR 2002, 998). Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich dabei auf die gesamte Breite der Vorfahrtsstraße (KG Berlin, Urt. v. 6.10.2005 – 12 U 104/04 = NZV 2006, 202; OLG Hamm, Urt. v. 23.2.2016 – I 9 U 43/15 = zfs 2017, 16). Selbst wenn der Vorfahrtsberechtigte gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen sollte und die linke Fahrbahn befährt, geht es ihm nicht verloren (OLG Jena, Urt. v. 9.5.2000 – 5 U 1346/99 = DAR 2000, 570).
Ein schuldhafter Verstoß des Vorfahrtsberechtigten gegen das Rechtsfahrgebot scheidet dagegen aus. Das Rechtsfahrgebot dient allein dem Schutz der Verkehrsteilnehmer, die sich in Längsrichtung auf derselben Straße bewegen (BGH, Urt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10 = zfs 2012, 76; OLG Hamm, Urt. v. 23.2.2016 – I 9 U 43/15 = zfs 2017, 16; OLG Stuttgart; Urt. v. 4.6.2014 ...