Julia Roglmeier, Dr. Christopher Riedel
Rz. 320
Seit seinem Urt. v. 20.9.1993 geht der BGH in seiner Rechtsprechung davon aus, dass eine ursprünglich wirksame Abfindungsklausel dauerhaft wirksam bleibt. Daran soll auch ein im Laufe der Zeit eingetretenes grobes Missverhältnis zwischen dem Klauselwert der Abfindung und dem anteiligen wirklichen Wert des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens nichts ändern. Dies gilt selbst dann, wenn die Abfindungsbeschränkung (nunmehr) dazu geeignet ist, das Kündigungsrecht des Gesellschafters, wenn nicht rechtlich, so doch tatsächlich, zu beeinträchtigen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass ein und dieselbe Vertragsklausel nicht – je nach Zeitpunkt der Entscheidung – einmal als wirksam, ein anderes Mal aber als unwirksam zu beurteilen sein kann.
Rz. 321
Im Rahmen einer Inhaltskontrolle ist aber zu überprüfen, ob die wortgetreue Anwendung der Klausel dem ausscheidenden Gesellschafter nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zugemutet werden kann. Im Rahmen dieser inhaltlichen Beurteilung sind sämtliche Umstände des jeweiligen Einzelfalls in die Betrachtung einzubeziehen. Neben dem Ausmaß der Differenz zwischen dem tatsächlichen Wert und dem Klauselwert des Anteils sind insbesondere auch der Anlass des Ausscheidens, die Dauer der Mitgliedschaft des Ausscheidenden sowie das Interesse der verbleibenden Gesellschafter an der Erhaltung der Liquidität und am Fortbestand des Unternehmens zu berücksichtigen.
Rz. 322
Eine allgemeingültige starre Grenze, z.B. ausgedrückt als Anteil der vereinbarten Abfindung am wirklichen Wert des Anteils, deren Überschreiten zwingend eine Korrektur erforderlich macht, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht ziehen. Im Zweifel widerspräche dies auch dem tatsächlichen/mutmaßlichen Willen der Beteiligten. Denn im Kern geht es hier um die Frage, was die Parteien vereinbart hätten, wenn sie die zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen im Zeitpunkt des ursprünglichen Vertragsschlusses bereits vorhergesehen hätten; an starre Grenzwerte wären sie dabei nicht gebunden gewesen.
Rz. 323
So kann die Prüfung durchaus mit dem Ergebnis abschließen, dass den Beteiligten, auch wenn sie die späteren Entwicklungen antizipiert hätten, ein auf den ersten Blick sehr groß erscheinendes Missverhältnis zwischen tatsächlichem Wert und Klauselwert für ihren konkreten Fall angemessen erschienen wäre. Dann ist die geringe Abfindung – trotz allem – als rechtmäßig zu akzeptieren.
Ergibt sich aber, dass redliche Vertragspartner unter Abwägung aller berechtigten Interessen den eingetretenen Veränderungen mit einer anderweitigen vertraglichen Regelung begegnet wären, ist die zu überprüfende Abfindungsklausel unanwendbar. Die hierdurch entstehende Lücke im Gesellschaftsvertrag wird dann im Wege ergänzender Vertragsauslegung (§ 157 BGB) geschlossen.