Julia Roglmeier, Dr. Christopher Riedel
Rz. 150
Das Pflichtteilsrecht garantiert dem Kreis der nach § 2303 BGB Berechtigen eine sog. Mindestteilhabe am Nachlass. Dieses verfassungsrechtlich geschützte Recht wäre gefährdet, könnte der Erblasser durch lebzeitige Schenkungen den dereinstigen Nachlass schmälern oder gar im Extremfall eine Reduktion auf Null herbeiführen. Um eine derartige Aushöhlung des Nachlasses zu verhindern, sieht das Gesetz in den §§ 2325 ff. BGB den sog. Pflichtteilsergänzungsanspruch vor. Der Schutz der §§ 2325 ff. BGB beeinträchtigt dabei freilich nicht die lebzeitige Verfügungsfreiheit des Erblassers. Allerdings geben die Vorschriften dem Pflichtteilsberechtigten die Möglichkeit, nach Eintritt des Erbfalles Ansprüche infolge lebzeitiger und den Nachlass schmälernder Vorschriften geltend zu machen.
Rz. 151
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ist seiner Rechtsnatur nach ein eigenständiger, außerordentlicher und vom ordentlichen Pflichtteil strikt zu unterscheidender Rechtsanspruch. Mit ihm zusammen bildet er den sog. Gesamtpflichtteil. Nach dem Grundrechenmodell müssen danach dem realen Nachlass zunächst die betroffenen Schenkungen hinzugerechnet und dann aus dem sog. Ergänzungsnachlass der Pflichtteilsergänzungsanspruch errechnet werden.
Rz. 152
Sofern gesetzlich nicht anders geregelt, wird der Pflichtteilsergänzungsanspruch wie der ordentliche Pflichtteil behandelt. Das gilt vornehmlich für den frühestmöglichen Zeitpunkt der Geltendmachung (ab dem Erbfall) und der Vererblichkeit bzw. der Übertragbarkeit (§ 2317 BGB). Auch die den Anspruch vorbereitenden Vorschriften zur Auskunfts- und Wertermittlungspflicht (§ 2314 BGB) sind auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch entsprechend anwendbar. Gleiches gilt für die Pfändbarkeit (§ 852 ZPO) und die Regelungen zur Verteilung der Pflichtteilslast (§§ 2318–2324 BGB).
Rz. 153
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch steht sowohl dem enterbten als auch dem infolge Ausschlagung nicht am Nachlass partizipierenden Berechtigten zu. Auch der pflichtteilsberechtigte Erbe kann bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen Ansprüche geltend machen, § 2326 BGB. Verpflichtet sind zunächst stets der Erbe bzw. die Erben, nicht der Beschenkte. Letzterer haftet erst subsidiär nach § 2329 BGB.
Rz. 154
In zeitlicher Hinsicht ist der Pflichtteilsergänzungsanspruch in der Regel auf einen 10-Jahreszeitraum begrenzt, § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB. In diesem Bereich sind allerdings zahlreiche Berechnungsvorgänge, Ausnahmen und nicht zuletzt auch die infolge der am 1.1.2010 in Kraft getretenen Erbrechtsreform Neuerungen zu beachten. Besondere Probleme bereiten in der Praxis die Verzahnungen mit dem ordentlichen Pflichtteilsanspruch. Hier sind vor allem anrechnungs- und/oder ausgleichungspflichtige Vorempfänge (§§ 2050 ff., 2315, 2316 BGB) zu beachten.
Rz. 155
Hat der Anspruchsinhaber selbst lebzeitige Schenkungen vom Erblasser erhalten, so muss er sich diese unabhängig von jedweder zeitlichen Schranke auf seinen Ergänzungsanspruch anrechnen lassen, § 2327 BGB.
Rz. 156
Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts zum 1.1.2010 wurde die bislang geltende zeitliche "Fallbeilregelung" für die ergänzungsrelevanten Schenkungen abgeschafft. Stattdessen sieht das Gesetz nun in § 2325 Abs. 3 BGB ein sog. Abschmelzungsmodell im Sinne einer Pro-rata Regelung vor. Bei Schenkungen, die innerhalb des 10-Jahreszeitraums erfolgt sind, wird künftig (also bei Erbfällen, die nach dem 31.12.2009 eingetreten sind) pro zurückliegendem Schenkungsjahr ein Wertabschlag von 10 % vorgenommen. Auf diese Weise hat der Gesetzgeber die Position des Pflichtteilsberechtigten geschwächt und das Vertrauen der Erben in den behaltensfesten Nachlassbestand demgegenüber gestärkt. Hintergrund der Neuregelung war dabei auch, den geänderten familiären Verhältnissen Rechnung zu tragen: im Zeitalter der Patchwork-Familie und der damit einhergehenden Gefahr der fortschreitenden Entfremdung der engsten Verwandten untereinander, schien es immer weniger hinnehmbar, Personen Pflichtteilsergänzungsansprüche in voller Höhe zuzugestehen, die sich über Jahre hinweg mit dem Verstorbenen nicht befasst, ja vielleicht jeglichen Kontakt zu ihm haben abreißen lassen.
Rz. 157
Ergänzungsrelevante Zuwendungen unter Ehegatten sind vom Abschmelzungsmodell gemäß § 2325 Abs. 3 S. 3 BGB erst ab dem Zeitpunkt der Auflösung der Ehe betroffen. Wird die Ehe also durch den Tod eines Ehegatten aufgelöst, unterfällt die Schenkung bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen in voller Höhe der Pflichtteilsergänzung.