Rz. 209

So, wie Stellenwert, Charakter und Quelle des berechtigen Interesses im Einzelfall unterschiedlich gewichtet sein können, gilt dies natürlich auch für das Betroffeneninteresse. So unterscheidet die DSGVO hinsichtlich ihres Anwendungsbereiches grundsätzlich nicht danach, wer genau betroffen[275] ist; sie unterstellt vielmehr generell "natürliche Personen" ihrem Anwendungsbereich. Natürliche Personen können jedoch in verschiedensten Lebenswirklichkeiten agieren und in den verschiedensten Lebensstadien von Verarbeitungen betroffen werden. Dabei kann auch das Schutzniveau einer betroffenen Person unterschiedliches Gewicht erlangen.

[275] Mit Ausnahme der Sondervorschriften in der Verarbeitung der Daten von Kindern.

aa) Kinder

 

Rz. 210

Besonders augenscheinlich und deutlich wird dies, soweit es um die Verarbeitung der Daten von Kindern geht. Art. 6 Abs. 1 lit f) DSGVO fordert eine besonders aufmerksame Handhabung des Abwägungsvorgangs[276] und gewährt dem Kindesinteresse "im Zweifel" den Vorrang vor dem berechtigten Interesse des Verantwortlichen.[277]

 

Rz. 211

Dass dies nicht immer so ist, wird an einer aktuellen Entscheidung des EuGH[278] besonders deutlich, in der es um die "Übermittlung von Informationen über einen minderjährigen Schadensverursacher an den Geschädigten geht, der diese Informationen zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Minderjährigen von einer Behörde herausverlangte. Der EuGH führt hierzu aus:"

Zitat

"Zum zweiten Teil der Vorlagefrage […] ist festzustellen, dass das Alter der betreffenden Person einen der Gesichtspunkte darstellen kann, die im Rahmen der Abwägung der jeweiligen einander gegenüberstehenden Rechte und Interessen zu berücksichtigen sind. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 82, 83 und 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erscheint es – unter dem Vorbehalt der insoweit von dem nationalen Gericht durchzuführenden Überprüfungen – unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht gerechtfertigt, es nur deshalb abzulehnen, dem Geschädigten personenbezogene Daten, die für die Erhebung einer Schadensersatzklage gegen den Verursacher des Schadens oder gegebenenfalls Personen, die die elterliche Sorge ausüben, erforderlich sind, zu übermitteln, weil der Verursacher des Schadens minderjährig ist."[279]

[276] Hier heißt es "insbesondere dann, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt."
[277] Erwägungsgrund 38 DSGVO: "Kinder verdienen bei ihren personenbezogenen Daten besonderen Schutz, da Kinder sich der betreffenden Risiken, Folgen und Garantien und ihrer Rechte bei der Verarbeitung personenbezogener Daten möglicherweise weniger bewusst sind."
[278] EuGH Urt. v. 4.5.2017 – C-13/16 = BeckRS 2017, 108615.
[279] Ebenda, Rn 33.

bb) Kranke und sonst "verletzliche" Personen

 

Rz. 212

Bei dem Betroffenen kann es sich um eine besonders schutzwürdige Person handeln. Zu denken ist hier insbesondere an Kranke und sonst besonders verletzliche Personen, wie z.B. behinderte Mitmenschen. Auch kann es sich um Verarbeitungen handeln, die natürliche Personen betreffen, die sich temporär in einem "Ausnahmezustand" befinden, z.B. trauernde Menschen oder solche, die gerade Opfer einer Straftat oder einer Naturkatastrophe waren. Nicht hierunter fallen Personen, die sich in einer rein wirtschaftlich schwierigen Lage befinden.

cc) Öffentliche Funktion und Bekanntheit der betroffenen Person

 

Rz. 213

Die Rolle oder Funktion der betroffenen Person in der Gesellschaft kann ein weiteres wichtiges Kriterium darstellen, welches im Rahmen der Abwägung nach Art. 6 Abs. 1 lit. f) DSGVO zu berücksichtigen ist. Hier ist grundsätzlich zwischen Privatpersonen und Personen, die in einem öffentlichen Kontext als Politiker oder Personen des öffentlichen Interesses handeln, zu unterscheiden. Während eine der Öffentlichkeit unbekannte Privatperson einen größeren Schutz verlangen kann, kann selbiger bei Personen des öffentlichen Lebens geringer zu bewerten sein.

 

Rz. 214

Insoweit kann es eine Rolle spielen, ob es sich bei der betroffenen Person um eine solche handelt, die eine "öffentliche Funktion" bekleidet oder bei der es sich sonst um eine "bekannte" Persönlichkeit handelt. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR sollte hierzu nicht der in Deutschland verwandte Begriff der "absoluten Person der Zeitgeschichte" herangezogen, sondern – wegen des gesamteuropäischen Charakters der DSGVO – eher auf die Terminologie des EGMR und die in diesem Zusammenhang ergangenen Urteile[280] zurückgegriffen werden. Es kann sich beispielsweise um eine politische Persönlichkeit mit hohem Bekanntheitsgrad[281] oder einen bekannten Schauspieler[282] handeln.

[280] EGMR, Urt. v. 10.7.2014 – 48311/10, Rn 43, juris: "Ferner sind die Grenzen der zulässigen Kritik im Hinblick auf einen Politiker als solcher weiter als bei einer einfachen Privatperson: im Unterschied zu letzterer setzt sich der Politiker unausweichlich und bewusst einer aufmerksamen Kontrolle seiner Handlungen und Gesten durch die Masse der Bürger aus; infolgedessen hat er eine größere Toleranz an den Tag zu legen (Lingens ./. Österreich, 8.7.1986, Rn 42, Se...

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