Christoph Teichmann, Ralf Knaier
Rz. 6
Auf der Ebene des Internationalen Gesellschaftsrechts ist der "Sitz" der Gesellschaft üblicherweise das Kriterium für die Anknüpfung des anwendbaren Gesellschaftsrechts (vgl. § 1 Rdn 1 ff.). Dabei ist zu beachten, dass auch Internationales Gesellschaftsrecht, seiner Rechtsquelle nach, nationales Recht ist. Im Einzelfall ist also für jede einzelne Rechtsordnung konkret zu prüfen, wie sie das Anknüpfungskriterium für Gesellschaftsrecht definiert. Grob unterscheiden lassen sich Staaten, die der Sitztheorie folgen (siehe Rdn 7 f.) und solche, die der Gründungstheorie folgen (siehe Rdn 9 f.). Da diese Theoriebildung eine Angelegenheit des nationalen Rechts ist, gibt es allerdings kein völlig einheitliches Verständnis von Inhalt und Reichweite der Theorien (vgl. auch § 1 Rdn 1 ff.).
1. Sitztheorie
Rz. 7
Folgt ein Staat der sog. Sitztheorie, knüpft er das anwendbare Gesellschaftsrecht am effektiven Verwaltungssitz der Gesellschaft an (vgl. § 1 Rdn 5 und § 1 Rdn 30 ff.). Die Sitztheorie gilt in Deutschland heutzutage nur noch für Drittstaaten, die weder der EU noch dem EWR angehören (vgl. § 1 Rdn 30 ff.) und bei denen keine einschlägigen völkerrechtlichen Verträge entgegenstehen (vgl. § 1 Rdn 7 ff.; siehe auch § 2 Rdn 66 ff. zu den Besonderheiten des EU-UK-TCA nach dem Brexit). Für die kollisionsrechtliche Prüfung auf Basis der Sitztheorie sind Satzungs- und Registersitz einer Gesellschaft ohne Bedeutung. Sie kommen erst auf der Ebene des Sachrechts ins Spiel, wenn es darum geht, die Gesellschaft einer bestimmten inländischen Rechtsform zuzuordnen. So kann eine Gesellschaft, die ihren effektiven Verwaltungssitz in Deutschland hat und damit deutschem Gesellschaftsrecht unterliegt, nur dann als GmbH oder AG angesehen werden, wenn sie gemäß GmbH- oder Aktiengesetz in einem deutschen Handelsregister eingetragen worden ist.
Rz. 8
Beispiel: Eine in der Schweiz eingetragene Aktiengesellschaft hat ihren effektiven Verwaltungssitz in Deutschland. Gegenüber Gesellschaften aus der Schweiz wendet der BGH weiterhin die Sitztheorie an. Die europäische Niederlassungsfreiheit gilt für die Schweiz nicht; es gibt auch keine einschlägigen völkerrechtlichen Abkommen. Im Beispiel gilt daher gemäß ihres effektiven Verwaltungssitzes für die betreffende Gesellschaft das deutsche Gesellschaftsrecht. Dass die Gesellschaft ihren Satzungs- und Registersitz in der Schweiz hat, ändert nichts an dieser Bestimmung des anwendbaren Rechts. Erst auf der zweiten Stufe, also bei der Anwendung des deutschen materiellen Gesellschaftsrechts, wirkt sich aus, dass die Gesellschaft in Deutschland nicht eingetragen ist. Sie kann damit im deutschen Recht nicht als Aktiengesellschaft klassifiziert werden; denn für die Gründung als deutsche AG müsste der Satzungssitz der Gesellschaft im Inland liegen (§ 5 AktG) und eine Eintragung im zuständigen Handelsregister erfolgt sein (§§ 14, 36 Abs. 1, 41 Abs. 1 S. 1 AktG). Mangels Eintragung kann die Gesellschaft im Rahmen des deutschen Gesellschaftsrechts nur rechtsfähige Personengesellschaft sein. Sie ist demnach Offene Handelsgesellschaft, wenn ihr Zweck auf den Betrieb eines Handelsgewerbes gerichtet ist (§ 105 Abs. 1 HGB); andernfalls handelt es sich um eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§ 705 BGB).
2. Gründungstheorie
Rz. 9
Folgt ein Staat der sog. Gründungstheorie, entscheidet der Ort der Gründung über das anwendbare Recht (vgl. § 1 Rdn 3). Nach welchen Regeln das Recht am Gründungsort eine Gesellschaft entstehen lässt, ist wiederum eine Frage des Sachrechts. Für das englische Recht wäre beispielsweise zu prüfen, ob der Registersitz in England, Wales, Schottland oder Nordirland liegt (siehe Rdn 5). Auch für eine deutsche GmbH ist die Eintragung in einem deutschen Handelsregister entscheidend, weil die Gesellschaft erst dadurch Rechtsfähigkeit erlangt (§ 11 Abs. 1 GmbHG). Der vor einigen Jahren vorgelegte Entwurf zur Kodifizierung des deutschen Internationalen Gesellschaftsrechts wollte mit seinem neuen Art. 10 Abs. 1 EGBGB das Gesellschaftsstatut gleichfalls am Registersitz anknüpfen (vgl. § 1 Rdn 31).
Rz. 10
Deutsche Gerichte folgen der Gründungstheorie, soweit die europäische Niederlassungsfreiheit oder völkerrechtliche Verträge sie dazu verpflichten (vgl. § 1 Rdn 7 ff.). Die Gesellschaft wird dann als diejenige Rechtsform behandelt, die sie nach dem ausländischen Sachrecht angenommen hat. Auf eine Gesellschaft, die ihren Registersitz beispielsweise in den Niederlanden hat und nach niederländischem Recht wirksam gegründet wurde, ist demnach niederländisches Gesell...