Christoph Teichmann, Ralf Knaier
Rz. 21
Auch wenn das materielle Gesellschaftsrecht keine Vorgaben enthält oder diese korrekt eingehalten wurden, bleibt zu prüfen, ob die Verlegung des Verwaltungssitzes kollisionsrechtlich zu einem Statutenwechsel führt. Dazu ist das Internationale Gesellschaftsrecht in beiden beteiligten Staaten (Herkunfts- und Aufnahmestaat) heranzuziehen.
Rz. 22
Wendet der Herkunftsstaat die Gründungstheorie an, so bleibt die Verlegung des Verwaltungssitzes der Gesellschaft kollisionsrechtlich ohne Auswirkungen. Für die Gesellschaft gilt weiterhin das Gesellschaftsrecht ihres Herkunftsstaates, in dem sie gegründet wurde. Die Verlegung des Verwaltungssitzes ändert also bei Anwendung der Gründungstheorie – zumindest aus Sicht des Herkunftsstaates der Gesellschaft – nichts am anwendbaren Recht. Auch in Deutschland folgt man mittlerweile überwiegend dieser Auffassung (vgl. § 1 Rdn 27). Aus der Warte des deutschen Rechts handelt es sich bei einer GmbH, deren Verwaltungssitz im Ausland liegt, immer noch um eine deutsche GmbH. Sie unterliegt unverändert den Regelungen des GmbH-Gesetzes, sofern sie ihren Satzungssitz im Inland hat (zur Satzungssitzverlegung vgl. Rdn 49 ff.).
Rz. 23
Wendet einer der beteiligten Staaten die Sitztheorie an, ist folgendermaßen zu differenzieren: Folgt der Herkunftsstaat der Sitztheorie, so führt die grenzüberschreitende Verlegung des Verwaltungssitzes zu einem Verweis auf die Rechtsordnung des Aufnahmestaates. Das bedeutet noch nicht zwingend, dass auch dessen materielles Gesellschaftsrecht anwendbar ist. Denn die Verweisung der Sitztheorie ist üblicherweise als Gesamtnormverweisung zu verstehen, die auch das Kollisionsrecht des Aufnahmestaates einschließt (siehe näher § 1 Rdn 37 f.). Folgt der Aufnahmestaat der Gründungstheorie, kommt es daher zu einer Rückverweisung auf den Herkunftsstaat; dessen Gesellschaftsrecht bleibt anwendbar, wenn er die Rückverweisung annimmt.
Rz. 24
Folgen Herkunfts- und Aufnahmestaat der Sitztheorie, kommt es zu einem Statutenwechsel. Nach Auffassung beider Staaten ist nun das materielle Gesellschaftsrecht des Aufnahmestaates anwendbar. Die Gesellschaft ist einer der dort existierenden Rechtsformen zuzuordnen. Das kann dazu führen, dass eine Gesellschaft, die im Herkunftsstaat als Kapitalgesellschaft gegründet worden ist, im Aufnahmestaat nur noch als rechtsfähige Personengesellschaft fortbesteht (vgl. Rdn 7 ff.).
Rz. 25
Problematisch ist die Rechtslage, wenn der Herkunftsstaat der Gründungstheorie folgt und der Aufnahmestaat die Sitztheorie anwendet. Dann entsteht die kuriose Situation einer Gesellschaft, die im Herkunftsstaat und im Aufnahmestaat nach dem jeweils eigenen Gesellschaftsrecht behandelt wird (doppeltes Gesellschaftsstatut). Diese Problemstellung wurde auch im Kontext des Brexit diskutiert (dazu ausführlich § 2 Rdn 107).
Rz. 26
Beispiel: Die im Fall "Trabrennbahn" (vgl. Rdn 8) auftretende Aktiengesellschaft wurde zwar nach dem Recht der Schweiz gegründet, vom deutschen BGH aufgrund der Sitztheorie aber dem deutschen Gesellschaftsrecht unterworfen. Da sie nicht nach deutschem Aktiengesetz gegründet und auch nicht im deutschen Handelsregister als AG eingetragen wurde, konnte die Gesellschaft nur als rechtsfähige Personengesellschaft eingeordnet werden. Anders liegen die Dinge nach dem Recht der Schweiz. Dort folgt man der Gründungstheorie. Die Verlegung des Verwaltungssitzes nach Deutschland ändert also aus Sicht der Schweiz nichts an der Geltung des schweizerischen Gesellschaftsrechts. Vor einem schweizerischen Gericht würde dieselbe Gesellschaft, die in Deutschland als Personengesellschaft qualifiziert wird, weiterhin als wirksam entstandene Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts behandelt.