Christoph Teichmann, Ralf Knaier
Rz. 53
Nach den Aussagen des EuGH in Cartesio, VALE und Polbud darf ein Mitgliedstaat eine Gesellschaft nicht mit Auflösung und Liquidation bedrohen, wenn sie sich in eine Gesellschaft nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates umwandeln will. Damit stellt er den formwechselnden Wegzug unter den Schutz der Niederlassungsfreiheit (Rdn 29 ff.). Zu unterscheiden sind demnach die Satzungsänderung ohne Formwechsel und die Satzungsänderung mit Formwechsel:
Rz. 54
Bei einer Satzungsänderung ohne Formwechsel ändert die Gesellschaft zwar ihren Satzungssitz und bestimmt als Sitz einen Ort, der im Ausland liegt. Dabei wollen die Gesellschafter aber nicht eine Rechtsform des Aufnahmestaates annehmen. Sie verbinden mit ihrer Satzungsänderung die Vorstellung, ihre Gesellschaft könne auch weiterhin als Gesellschaft des Herkunftsstaates behandelt werden.
Beispiel: Die Gesellschafter einer GmbH fassen formgültig einen Beschluss, mit dem sie den Sitz der Gesellschaft ändern. Dieser soll künftig in Paris liegen. Sie wollen aber weiterhin in allen Fragen des Gesellschaftsrechts als GmbH deutschen Rechts behandelt werden.
Rz. 55
Die im Beispiel genannte Gestaltung steht nicht unter dem Schutz der Niederlassungsfreiheit. Nach Auffassung des EuGH kann ein Mitgliedstaat die Anknüpfung bestimmen, die eine nach seinem Recht gegründete Gesellschaft aufweisen muss. Er kann den Erhalt dieser Eigenschaft davon abhängig machen, dass die betreffende Anknüpfung erhalten bleibt. Deutschland kann also von einer nach GmbH-Gesetz gegründeten GmbH verlangen, dass sie ihren Satzungssitz im Inland hat. Dies wird bei der Eintragung auch geprüft. Wenn die Gesellschafter den Satzungssitz nachträglich ins Ausland verlegen, können sie nicht erwarten weiterhin als deutsche GmbH behandelt zu werden. Sie haben dann nur die Wahl, eine Auflösung der Gesellschaft hinzunehmen, die Satzungsänderung rückgängig zu machen oder durch Formwechsel eine Änderung des anwendbaren Gesellschaftsrechts anzustreben.
Rz. 56
Bei einer Satzungsänderung mit Formwechsel ändern die Gesellschafter den Satzungssitz mit dem Ziel, eine Rechtsform des Aufnahmestaates anzunehmen.
Beispiel: Die Gesellschafter einer GmbH fassen formgültig den Beschluss, wonach der Sitz der Gesellschaft künftig in Paris liegen soll. Sie melden dies beim bislang zuständigen deutschen Handelsregister an und beantragen, dies dem nunmehr zuständigen Handelsregister in Paris mitzuteilen. Die Satzung der GmbH wurde vorsorglich an die Regelungen des französischen Gesellschaftsrechts angepasst. Die Gesellschafter wollen nach der Sitzverlegung in Paris als französische société à responsabilité limitée eingetragen werden.
Rz. 57
Dieser Fall ist in der Cartesio-Entscheidung zwar angesprochen, aber nicht komplett gelöst worden. Klarheit brachte die VALE-Entscheidung aus dem Jahre 2012. Dort ging es um den Formwechsel einer italienischen Srl in eine ungarische Kft. Das ungarische Handelsregister hatte eingewandt, eine ausländische Gesellschaft könne nach ungarischem Recht nicht als Rechtsvorgängerin eingetragen werden. Der EuGH stellte klar, dass ein Mitgliedstaat, der innerstaatlich eine Umwandlung erlaube, dieselbe Möglichkeit auch Gesellschaften geben müsse, die dem Recht eines anderen Mitgliedstaates unterliegen. Die Regelung dürfe dabei für ausländische Gesellschaften nicht ungünstiger sein als für inländische (Äquivalenzgrundsatz), außerdem dürfe der Mitgliedstaat die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Der Effektivitätsgrundsatz verpflichtet den Aufnahmestaat insbesondere, den im Herkunftsstaat ausgestellten Dokumenten gebührend Rechnung zu tragen.
Rz. 58
Damit gleicht der aktuelle Rechtszustand (bis zur Umsetzung der Mobilitätsrichtlinie) demjenigen zur grenzüberschreitenden Verschmelzung, wie er vor Umsetzung der zehnten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie bestand: Die Gesetze der meisten Mitgliedstaaten regeln den grenzüberschreitenden Vorgang zwar nicht, kennen aber dieselbe Transaktion im innerstaatlichen Bereich zwischen Gesellschaften ihrer eigenen Rechtsordnung. Die Rechtswissenschaft hatte auf dieser Grundlage seinerzeit die Konstruktion einer grenzüberschreitenden Verschmelzung entwickelt; in einzelnen Fällen hatten sich auch Register bereitgefunden, auf Basis dieser Überlegungen eine grenzüberschreitende Verschmelzung einzutragen.
Rz. 59
In diesem Umfeld hatte damals der EuGH in Sevic entschieden, dass die Mitgliedstaaten eine ausländische Gesellschaft jedenfalls nicht generell von der Teilnahme an innerstaatlich geregelten Umwandlungsmaßnahmen ausschließen dürfen. Diese Aussage war nicht auf Verschmelzungen beschränkt. Vielmehr heißt es in der Entscheidung: "Grenzüberschreitende Verschmelzungen entsprechen wie andere Gesellschaftsumwandlungen den Zusammenarbeits- und Umgestaltungsbedürfnissen von Gesellschaften mit Sitz in verschiedenen Mit...