Christoph Teichmann, Ralf Knaier
Rz. 71
Bis vor Kurzem gab es keinerlei kodifiziertes Sekundärrecht, welches sich mit Fragen der grenzüberschreitenden Sitzverlegung auseinandergesetzt hätte. Durch mehrere Richtlinien wurde jedoch das innerstaatliche Umwandlungsrecht der Mitgliedstaaten in zahlreichen Teilbereichen ausgeformt und harmonisiert, insbesondere was die Verschmelzung und Spaltung betrifft. Allgemein existierte bis 2019 im Bereich der grenzüberschreitenden Unternehmensumwandlungen vergleichsweise wenig Sekundärrecht: Die SE-Verordnung sieht für die Societas Europaea explizit die grenzüberschreitende Verschmelzung als Gründungsform vor. SE, EWIV und SCE können zudem ihren Sitz grenzüberschreitend in der Union verlegen. Ansonsten wurde bis 2019 lediglich die Verschmelzungsrichtlinie (jetzt in die Richtlinie über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts integriert) erlassen, welche grenzüberschreitende Sachverhalte regelt.
Rz. 72
Für eine Sitzverlegungsrichtlinie (14. Gesellschaftsrechtliche Richtlinie) existierte lange Zeit nur ein auf einer Konsultation der Kommission beruhender Vorentwurf aus dem Jahre 1997. Der Vorentwurf sah eine grenzüberschreitende Sitzverlegung unter Änderung des anwendbaren Rechts vor. Er wurde angesichts der Rechtsprechung des EuGH, die sich in mehreren Entscheidungen mit der grenzüberschreitenden Sitzverlegung befasste (dazu Rdn 27 ff.), von der Kommission zwischenzeitlich ruhen gelassen. Allerdings wurden ab 2007 wieder Arbeiten seitens der Kommission aufgenommen. Die EuGH-Entscheidungen Cartesio und VALE verstärkten den Ruf nach einer Sitzverlegungsrichtlinie, da die EuGH-Rechtsprechung allein keinen rechtssicheren Rahmen bietet. Dies bestätigen eindrücklich die immer wieder auftretenden Problemen in der Praxis (dazu die Entscheidungen in den Rdn 76 ff.).
Rz. 73
Mit dem sog. Company Law Package legte die Europäische Kommission einen umfangreichen Vorschlag zur Novellierung der Regeln über grenzüberschreitende Verschmelzungen sowie zur erstmaligen Kodifizierung grenzüberschreitender Spaltungen und Formwechsel vor. Mit dem Paket wurden zwei Änderungsrichtlinien zur Richtlinie über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (nachfolgend Gesellschaftsrechts-RL) vorgelegt. Die erste der beiden Änderungsrichtlinien betrifft den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht. Die zweite Richtlinie soll die grenzüberschreitende Mobilität von Gesellschaften im Binnenmarkt durch grenzüberschreitende Sitzverlegung, Verschmelzung und Spaltung fördern. Die Richtlinie wird, ebenso wie schon der Kommissionsvorschlag, auf Art. 50 Abs. 1 und 2 AEUV gestützt. Das Company Law Package durchlief innerhalb von lediglich etwas mehr als zwölf Monaten das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294 AEUV. Bereits am 7.8.2018 hatte die Parlamentsabgeordnete Evelyn Regner einen Entwurf für Änderungen präsentiert, die das Parlament am Vorschlag für grenzüberschreitende Umwandlungsmaßnahmen vornehmen solle. Hierauf basiert der Bericht des Rechtsausschusses vom 6.12.2018. Das Parlament hatte seine finalen Änderungsvorschläge am 9.1.2019 vorgelegt und am 30.1.2019 das Trilogmandat erteilt. Am 25.1.2019 legte der Rat seine Änderungsvorschläge hierzu vor. Zwischen Rat und Rechtsausschuss (JURI) konnte am 1.4.2019 ein Einigungstext erarbeitet werden. Den Einigungsvorschlag billigte das Europäische Parlament am 18.4.2019 in Erster Lesung. Der Rat erteilte hierzu seine Zustimmung am 2.5.2019. Am 1.1.2020 trat die Richtlinie über grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen in Kraft. Für die Umsetzung haben die Mitgliedstaaten bis zum 31.1.2023 Zeit. Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) hat bereits eine Expertenkommission bestehend aus Mitgliedern aus Wissenschaft und Praxis eingesetzt, welche die Richtlinienumsetzung durch das sog. Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie (UmRUG) vorbereiten soll.
Rz. 74
Neben der Rechtsetzung auf EU-Ebene befasst sich die Wissenschaft ebenfalls mit der Fortentwicklung des Europäischen Gesellschaftsrechts im Bereich der Gesellschaftsmobilität. Das bisher am weitesten fortgeschrittene Projekt in dieser Hinsicht ist der "European Model Company Act" (EMCA). Dieser soll ein modernes und europaweit funktionsfähiges Modellgesetz nach Vorbild des U.S.-amerikanischen "Revised Model Business Corporation Act" (RMBCA) für Kapitalgesellschaften anbieten. Entwickelt wurde der EMCA von einer internationalen Expertengruppe, die politisch und finanziell unabhängig tätig wurde. Die Bestimmungen des EMCA sollen als Vorbild für entsprechende Regelungen in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen entweder ganz oder teilweise in den jeweiligen europäischen Staaten implementiert werden können. Der EMCA soll als Maßstab dienen und die Basis für europaweit einheitlich gestaltete nationale Rechtsformen sein. Er sol...